Wie beurteilen Sie den aktuellen Digitalisierungsgrad in der Versicherungswirtschaft?
Schulze: Die Versicherungsbranche hat in den letzten Jahren enorm aufgeholt, auch weil sich die Welt immer schneller verändert. Anbieter wie Insurtechs, Neoversicherungen und Start-ups mit neuen Ideen sorgen für Dynamik am Markt. Die Digitalisierung hat zusätzliche Informations- und Kommunikationskanäle und Potenziale für schnellere Prozesse und Services eröffnet. Gleichzeitig haben sich die Erwartungen der Kundinnen und Kunden verändert. Durch Amazon, Google & Co. ist es zum Beispiel selbstverständlich geworden, Informationen und Produkte auf einen Klick zu erhalten. Die Versicherungsbranche hat darauf reagiert. Prozesse haben sich beschleunigt, Services sind digitaler und interaktiver geworden und entwickeln sich stetig weiter. Dazu arbeitet die Branche an ihren IT-Systemen. Zusätzlich nutzt sie die Innovationskraft von Start-ups, zum Beispiel, indem sie Tools für Einzelprozesse einkauft, um ihre Services zu erweitern. Für müssen uns aber auch darüber im Klaren sein, dass Digitalisierung ein fortlaufender Prozess ist. Die Versicherungsbranche hat hier noch keinen Pionierstatus. Wir müssen damit rechnen, dass die Geschwindigkeit von Technologien und Trends sich weiterhin beschleunigen wird. Darauf muss die Versicherungsbranche Antworten finden. Ein großer Teil liegt auch in einer kulturellen Transformation hin zu einer ‚Digital First‘-Kultur.
Worum geht es bei den Neuerungen schwerpunktmäßig?
Schulze: Es geht auch um eine grundsätzliche Erweiterung des Horizonts. Versicherungen haben erkannt, dass sie mehr für ihre Kundinnen und Kunden tun müssen, als sie für den Schadenfall abzusichern und ihnen Leistungen auszuzahlen. Versicherer können in vielerlei Hinsicht weiterhelfen und Mehrwerte bieten, zum Beispiel mit vollumfänglichen Ökosystemen. Die Idee ist, dass sich darin Anbieter verschiedener Leistungen zusammenschließen, um Kundinnen und Kunden ganzheitliche Services zu einem Lebensbereich zu bieten, zum Beispiel rund um Gesundheit oder Wohnen.
Welches Potenzial bietet die Künstliche Intelligenz (KI) für die Praxis?
Schulze: Wir sind überzeugt, dass generative KI erst am Anfang steht und großes Transformationspotenzial birgt. Als neuer digitaler Megatrend wird generative KI einen großen Teil des Versicherungsgeschäfts erfassen. Momentan beobachten wir beispielsweise ein großes Interesse an GPT-basierten Informationssystemen, mit denen Chatbots Dokumente durchsuchen, Antworten aus den gefundenen Informationen erstellen und an die Nutzer und Nutzerinnen zurückgeben können.
Wo sind solche Bots sinnvoll einsetzbar?
Schulze: Zum Beispiel in der Bearbeitung von Anfragen von Kunden und Kundinnen oder im internen Wissensmanagement. Da den genauen zukünftigen Anwendungsfällen und den entsprechenden Auswirkungen eine gewisse Unschärfe innewohnt, ist ein kritisch-reflektierter, aber dennoch proaktiver, mutiger Umgang mit diesem Trend nötig.
Welche aktuellen Projekte in der Digitalisierung verfolgt die Gothaer?
Schulze: Grundsätzlich gibt es keinen Bereich in unserem Konzern, in dem derzeit kein Digitalisierungsprojekt vorangetrieben wird. Dazu gehört die Automatisierung von Antragsprozessen für eine schnellere und weniger fehleranfällige Datenerfassung oder von Risikobewertungen in Echtzeit, um Policen schneller genehmigen zu können. Zudem nutzen wir Voice- und Chatbots für eine flexiblere Interaktion mit unseren Kundinnen und Kunden. Natürlich setzen wir auch auf eine digitalisierte Schadensabwicklung. Hier helfen digitale Tools, Schadenmeldungen von der Erfassung bis zur Auszahlung automatisiert zu bearbeiten.
Wo ist die Künstliche Intelligenz aktuell bereits im Einsatz?
Schulze: Wir bearbeiten erste Use Cases mit Hilfe von KI für ein ausgefeilteres Wissensmanagement. Um die Vermittlerzufriedenheit weiter zu verbessern, haben wir für unseren Exklusivvertrieb einen eigenen KI-basierten Chatbot eingerichtet. Darüber hinaus arbeiten wir kontinuierlich daran, unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Umgang mit digitalen Tools weiter zu qualifizieren. Im Fokus steht dabei, KI als Hilfsmittel zu verstehen, um Kernprozesse zu verbessern und Raum für neue Ideen zu schaffen. Die Gothaer setzt auf Künstliche Intelligenz als zentralen Bestandteil ihrer Digitalisierungsstrategie. Dabei kommt KI entlang der gesamten Wertschöpfungskette zum Einsatz, von der Produktentwicklung über Marketing und Vertrieb bis hin zur Bestandsverwaltung.
Die Fragen stellte Oliver Lepold, freier Journalist aus Hamburg.