Sie sagten eben, dass die Zahl der Unternehmen, die sich in die Bücher schauen lassen, wächst. Spielt dabei nicht auch die Macht der Ratingagentur eine Rolle?
Franke: Natürlich! Und es liegt daran, dass es im Markt viele gute Produkte gibt. Fast jeder Versicherer bietet zumindest ein Produkt an, das kaum zu beanstanden ist. Heute ist es daher wichtig, nicht nur auf den Rechtsanspruch auf Leistungen zu schauen, sondern auch, wie ein Versicherer seine Bedingungen in der Praxis umsetzt. Wir prüfen daher auch die Leistungspraxis und beziehen dies in unsere Bewertung ein. Außerdem bewerten wir die Stabilität des Versicherers, also wie vorausschauend er handelt und damit die Überschüsse stabil hält und leistungsfähig bleibt.
Für Spitzenbewertungen sind daher nicht nur gute Bedingungen notwendig oder die finanzielle Stärke. Ein Produkt muss auch nachhaltig betrieben werden. Im Rahmen unseres Stabilitätsratings prüfen wir beispielsweise, ob Überschüsse bereits gesenkt werden mussten. Die Stabilität und Leistungspraxis eines Versicherers kann das Zünglein an der Waage bei der Bewertung sein. Genau das motiviert Unternehmen, ihre Prozesse zu optimieren und auf eine positive Bewertung hinzuarbeiten.
Wie bewerten Sie den aktuellen BU-Preiskampf im Markt?
Franke: Der Preiskampf ist völlig unsinnig und wird in die falsche Richtung geführt. Beispielsweise hat ein großer BU-Versicherer im Jahre 2009 eine neue Berufsgruppenkalkulation auf den Markt gebracht. Das sorgte für Aufsehen, da viele andere Versicherer erklärten, dass sie mit diesen neuen Konditionen nicht mithalten könnten. Heute hätte die Branche gerne wieder das Preisniveau von 2009. Seitdem wurden die Berufsgruppen jedoch weiter fragmentiert, was der Stabilität eher schadet, da der Risikoausgleich zwischen den Berufen verringert wird.
Diese Entwicklung kritisieren wir schon seit Jahren, sie ist aber faktisch nicht umkehrbar: Jeder, der heute versucht, das rückgängig zu machen, würde kaum noch Neugeschäft generieren. Fortgesetzt und in Kombination mit unsinnigen Regelungen, wie dem Verzicht auf konkrete Verweisung, könnte das letztlich dazu führen, dass das Produkt in seiner aktuellen Form langfristig nicht überleben wird.
Stichwort Marktdurchdringung: Sie haben ermittelt, dass es sich bei 10,9 Millionen Verträgen um Zusatzversicherungen und nur bei rund 5,9 Millionen um selbstständige Individualitätsversicherungen handelt, bei 46 Millionen Berufstätigen.
Franke: Das Problem liegt darin, dass viele Zusatzversicherungen lediglich die Beitragsbefreiung der Hauptversicherung absichern und keine echten Renten darstellen. Zudem gibt es zahlreiche Verträge mit pauschalen Leistungen, etwa 500 Euro. Unsere Stichprobenuntersuchungen und die bereitgestellten Daten zeigen deutliche Häufungen bei Beträgen wie 500 Euro, 1.000 Euro und 1.250 Euro. Natürlich gibt es auch Verträge, bei denen der tatsächliche Bedarf abgesichert wurde. Das zeigt, dass zum einen zu wenig Verträge bestehen und zudem bei einem Großteil der Verträge die Absicherung nicht bedarfsgerecht ist. Man muss es deutlich sagen: Die Beitragsbefreiung für Rentenversicherungen macht Sinn, aber Verträge mit Mini-Renten kann man sich wirklich schenken.
Woran liegt das? Sie waren ja BU-Vermittler und wissen, wie beraten wird.
Franke: Da gibt es ein falsches Verständnis. Als Vermittler sollte man die Kunden über ihren tatsächlichen Bedarf aufklären und das Risiko verdeutlichen. Wenn das nicht gelingt, sollte man vom Abschluss abraten oder eine Alternative Absicherung anbieten, anstatt sich mit einer kleinen Rente von 500 Euro zufriedenzugeben, nur um eine Provision zu erhalten. Solche niedrigen Renten werden auf Sozialleistungen wie das Bürgergeld angerechnet, was bestenfalls die Staatskasse entlastet. Würde dies in einem Beratungsgespräch offengelegt, würden viele Kunden den Vertrag nicht abschließen. Eine Berufsunfähigkeitsrente sollte in einer Höhe abgeschlossen werden, die den Lebensunterhalt sichert – in der Regel also deutlich über 500 oder 1.000 Euro.
Auch die gesetzliche Erwerbsminderungsrente bei einer BU-Beratung anzurechnen ist nicht konsequent, da dies voraussetzt, dass Kunden tatsächlich so krank werden, dass die EMI leistet. Wenn man merkt, dass Kunden sich nur eine Absicherung auf Erwerbsminderungsniveau leisten können, ist die private Erwerbsminderungsrente sinnvoller.
Aber die Gesellschaften bieten eine EU nahezu überhaupt nicht an.
Franke: Das ist einer meiner größten Kritikpunkte an der Praxis der Arbeitskraftabsicherung. Die Erwerbsunfähigkeitsversicherung spielt nicht die Rolle, die sie eigentlich haben sollte. Sie könnte das sein, was die BU nicht mehr sein kann: das ideale Breitenprodukt, weil sie ähnlich wie die BU-Versicherung wichtige Risiken, wie psychische Erkrankungen oder schwere Krebserkrankungen, vernünftig absichert. Wer aus psychischen Gründen seinen Beruf nicht mehr ausüben kann, ist oft auch in keinem anderen Beruf einsetzbar.
Der Anteil psychischer Erkrankungen bei der gesetzlichen Erwerbsminderungsrente liegt bereits bei über 40 Prozent. Andere Ursachen spielen eine geringere Rolle, aber wie bei der BU sind in der Erwerbsunfähigkeitsversicherung alle Erkrankungen abgedeckt – ein offenes System ohne Einschränkung auf bestimmte Krankheiten oder Fähigkeiten. Zwar greift die Versicherung erst dann, wenn man nicht mehr länger als drei Stunden täglich arbeiten kann, aber bei einem vernünftigen Beratungsgespräch verstehen die Kunden das.
Das klingt so, als ob man das ganze Thema Arbeitskraftabsicherung neu aufziehen müsste?
Franke: Das Thema ist emotional. Die Branche hat lange gegen die gesetzliche Erwerbsminderungsrente gekämpft. Als die gesetzliche BU abgeschafft und durch die Erwerbsminderungsrente ersetzt wurde, hat man die private BU als das qualitativ bessere Produkt dargestellt. Dies führte dazu, dass die Erwerbsunfähigkeitsversicherung in der Vermittlungspraxis schlecht angesehen wurde – ein falscher Ansatz. In der privaten Krankenversicherung wird ja auch nicht nur der Top-Tarif angeboten.
Seit 2012 haben wir daher unsere AKS-Kampagne mit einem dreistufigen System aus Berufsunfähigkeits-, Erwerbsunfähigkeits- und Grundfähigkeitsversicherung aufgebaut. Wir haben berechnet, wie diese Produkte die Risiken im Verhältnis zum Preis absichern. So kann man feststellen, wie viel eine vernünftige Absicherung kostet und was sie leistet, unabhängig davon, ob es eine BU, EU oder Grundfähigkeit ist. Allerdings ist es uns bisher nicht gelungen, dies im Markt voll durchzusetzen. Die Einführung der Grundfähigkeitsversicherung ist ein Erfolg, doch nach wie vor ist die Reichweite der Absicherung zu gering. Dafür braucht es die EU.
Warum wird die Erwerbsunfähigkeitsversicherung nicht gleichermaßen akzeptiert?
Franke: Viele Versicherer haben, auch auf unsere Empfehlung hin, die Erwerbsunfähigkeitsversicherung weitergeführt oder neu eingeführt. Allerdings wurde das Produkt vom Vertrieb nicht ausreichend angenommen, weshalb viele Anbieter es letztlich wieder aus dem Portfolio gestrichen haben. Das muss korrigiert werden.
Wie müsste das Thema geregelt werden?
Franke: Eine Neuregelung bedeutet für mich nicht, die Welt komplett neu zu erfinden. Wir haben bereits ein Produktportfolio aus Berufsunfähigkeits-, Erwerbsunfähigkeits- und Grundfähigkeitsversicherungen, das am Markt existiert. Einige Versicherer bieten weiterhin Erwerbsunfähigkeitsversicherungen an. Im Kundengespräch würde ich zunächst den Bedarf besprechen: Was passiert, wenn die Arbeitskraft verloren geht? Früher hieß es oft: „Kannst du BU werden? Dann brauchst du eine BU.“ Heute reden wir eher darüber, dass man krankheitsbedingt seine Arbeitskraft verlieren kann und dafür ein wirtschaftliches Pendant benötigt. Zunächst ermittelt man die vorhandenen Ansprüche und die entstehende Lücke. Dann bespricht man die verschiedenen Absicherungsniveaus. Es gibt die Luxus-Variante, die Berufsunfähigkeitsversicherung, die kostet Betrag X.
Die Erwerbsunfähigkeitsversicherung deckt im Wesentlichen die gleichen Risiken und Ursachen ab, allerdings muss der Schiebeschalter von der eigenen Tätigkeit auf alle Tätigkeiten des Arbeitsmarktes verschoben werden. Man muss also – mit Ausnahme psychischer Erkrankungen – kränker sein, um eine Leistung zu erhalten. Wer damit kein Problem hat, kann sich für die Erwerbsunfähigkeitsversicherung entscheiden. Wem das nicht passt, der wählt die BU oder will vielleicht spezifische Fähigkeiten absichern.
Die Grundfähigkeitsversicherung passt nicht exakt in dieses System, da sie ein geschlossenes System mit Absicherung spezifischer Fähigkeiten ist und der Beruf bei der Leistungsfeststellung keine Rolle spielt. Dennoch kann sie sinnvoll vor allem bei Berufen mit körperlichen Tätigkeiten eingesetzt werden oder wenn es psychische Vorerkrankungen gibt. Sie bietet Spielräume in der Risikoprüfung, gerade weil sie anders funktioniert.
Seite 3: Bei Grundfähigkeitsversicherungen sind die Anbieter schon wieder mit dem falschen Fokus unterwegs