EXKLUSIV

EXTRA Betriebliche Vorsorge – Roundtable: „Das ist der letzte Weckruf für eine Reform“

Foto: Florian Sonntag
Die Diskussionsteilnehmer von links: Ralf Berndt, Vorstand Vertrieb, Marketing & bAV, Die Stuttgarter; Karsten Rehfeldt, Geschäftsführer BBVS, Beratungsgesellschaft für betriebliche Vorsorgesysteme; Sven Tänzer, CEO enovetic global sa; Karol Musialik, Generalbevollmächtigter & Aktuar Leben, Die Bayerische Lebensversicherung; Frank Lamsfuß, Vorstand Vertrieb, Marketing & IT, BarmeniaGothaer

Das ist der letzte Weckruf für eine echte Reform – so eindringlich fällt das Fazit der Gesprächsrunde beim Cash. Extra Betriebliche Vorsorge aus. Trotz beeindruckender Wachstumszahlen in der bAV und bKV sehen die Experten immer noch strukturelle Hürden: zu viel Bürokratie, fehlende Rechtssicherheit und unklare politische Rahmenbedingungen. Besonders für Geringverdiener bleibt die Altersvorsorge eine Herausforderung. Die Branche fordert von der kommenden Regierung mutige Reformen.

Wir stehen am Jahresbeginn und der eignet sich wunderbar für einen Rückblick. Wie hat sich das betriebliche Vorsorgegeschäft bei Ihnen entwickelt? 

Lamsfuß: Der Zusammenschluss von Barmenia und Gothaer im Jahr 2024 war ein wichtiger Schritt für uns. Die betriebliche Vorsorge bleibt dabei ein zentrales und wachsendes Geschäftsfeld. Besonders in der betrieblichen Altersvorsorge (bAV) konnten wir ein Rekordjahr verzeichnen. Auch in der betrieblichen Krankenversicherung (bKV) behaupten wir unsere starke Marktposition und freuen uns über das erfolgreiche Neugeschäft. Mit diesen Ergebnissen blicken wir optimistisch in die Zukunft.

Berndt: Das kann ich nur bestätigen. Für uns als Stuttgarter ist die bAV eines der zentralen strategischen Geschäftsfelder. Bereits 2023 haben wir mit einer Neugeschäftssteigerung von 30 Prozent ein Rekordergebnis erzielt. Diese beeindruckende Entwicklung konnten wir im vergangenen Jahr um weitere rund zehn Prozent steigern, womit wir ein neues Allzeithoch erreicht haben. Der Anteil der bAV am gesamten Neugeschäft liegt nun bei über 30 Prozent. 

Musialik: Bei der Bayerischen verzeichnen wir eine ähnliche Entwicklung. Unser Neugeschäft ist im Vergleich zu 2023 um 9,1 Prozent gewachsen. Besonders in der bAV konnten wir sogar überdurchschnittlich zulegen. Angesichts dieser positiven Entwicklung stellt sich die Frage, wo die Unternehmen sind, die weniger Wachstum verzeichnen, da der Markt insgesamt als stagnierend gilt.

Rehfeldt: Im Bereich der bAV haben wir das Vorjahresergebnis gehalten, auch wenn wir eine gewisse Zurückhaltung seitens der Arbeitgeber spüren. Dafür hat sich unser Geschäft in der bKV versechsfacht. Auch die betriebliche Berufsunfähigkeitsversicherung hat sich verdoppelt. Insgesamt sind wir sehr zufrieden, insbesondere da unser Beratungsgeschäft erheblich an Dynamik gewonnen hat.

Tänzer: Wir sind als Pensionsfondsanbieter wahrscheinlich der jüngste Player in diesem Marktsegment, was sich auch in unseren Wachstumsraten widerspiegelt. Im vergangenen Jahr konnten wir unser Geschäft verfünffachen – ein deutlicher Anstieg. 2024 war für uns ein äußerst erfolgreiches Jahr, und die aktuelle Entwicklung deutet darauf hin, dass dieser positive Trend anhält.

Karsten Rehfeldt: „In der bAV haben wir eine gewisse Zurückhaltung. Dafür hat sich unser Geschäft mit der bKV
versechsfacht.“

Foto: Florian Sonntag

Neuere bAV-Studien aus 2024 – etwa von Deloitte oder der Generali – sehen den Markt auf der Stelle treten, gerade im Mittelstand. Was hemmt die Durchdringung? 

Berndt: Die geringe Verbreitung der bAV im Mittelstand ist kein neues Phänomen. Umgekehrt bedeutet das: hier liegt großes Potenzial. Als mittelständischer Versicherer verstehen wir die Herausforderungen dieser Unternehmen und bieten passende Lösungen. Absolut betrachtet wächst die bAV. Der Eindruck von Stagnation entsteht, weil die Zahl der Erwerbstätigen schneller steigt. In der Beratung sehen wir keine Verunsicherung. Früher dominierte die Entgeltumwandlung; durch den Fachkräftemangel zahlen viele Arbeitgeber inzwischen Zuschüsse über 15 Prozent hinaus. Dies steigert die Durchdringung. Unternehmen wünschen sich einfache Lösungen, um bürokratischen Aufwand, Abmeldungen und Fluktuation effizient zu managen.

Lamsfuß: Der Arbeitgeberzuschuss ist ein wesentlicher Treiber. Besonders in Unternehmen, die über die gesetzlich vorgeschriebenen 15 Prozent hinausgehen, steigt die Akzeptanz spürbar, was sich in einer höheren Durchdringung zeigt. Zudem hängt der Verbreitungsgrad stark von den Beratungsangeboten ab. Wo eine persönliche Beratung erfolgt sehen wir deutlich höhere Teilnahmequoten – in einigen Fällen sogar bis zu 80 Prozent. Das zeigt, wie entscheidend gezielte Information und individuelle Betreuung für den Erfolg der bAV sind.

Musialik: Die Politik diskutiert viel, trifft aber keine klaren Entscheidungen. Gleichzeitig muss der Personalleiter eine Wahl für hunderte Mitarbeiter treffen, ohne verlässliche Rahmenbedingungen. Das erschwert die Umsetzung einer bAV erheblich. Ein weiteres Problem sehe ich darin, dass viele Arbeitnehmer ihre bAV nicht nutzen, obwohl sie ihnen angeboten wird – schlicht, weil sie sich nicht aktiv damit befassen. Ohne ein Opt-out-Modell bleibt viel Potenzial ungenutzt. Eine automatische Einbindung wäre daher dringend notwendig.

Herr Rehfeldt, was registrieren Sie in der Beratung? 

Rehfeldt: In großen Unternehmen ist die Durchdringung durch tarifvertragliche Regelungen meist höher, während im Mittelstand häufig Matching-Modelle mit Entgeltumwandlung und Zuschüssen vorherrschen. Der Fachkräftemangel treibt jedoch die arbeitgeberfinanzierten Beiträge nach oben. Doch Monatsbeiträge von 100 Euro reichen nicht aus – 200 bis 300 Euro wären nötig. Ein zentrales Hemmnis bleibt der Verwaltungsaufwand. Mit sechs Durchführungswegen und drei Zusagearten ergeben sich 16 mögliche Varianten. Das verstehen selbst Fachleute kaum noch. Diese Komplexität führt oft dazu, dass Unternehmen kein Angebot bereitstellen oder sich auf veraltete Modelle stützen. Hinzu kommt die politische Unsicherheit. 

Sven Tänzer: „Beratung ist essenziell und muss vergütet werden.“ Foto: Florian Sonntag

Eine weitere Erkenntnis aus den genannten Studien ist, dass über ein Viertel der Arbeitnehmer mit unterdurchschnittlichem Einkommen nicht spart, weil finanziellen Mittel fehlen. Welche Maßnahmen sind nötig, damit Geringverdiener nicht durch das bAV-Raster fallen?

Berndt: Unsere Hauptzielgruppe sollten in der Tat Geringverdiener sein. Allerdings sind weder ein Opting-Out-Modell noch eine verpflichtende bAV die optimale Lösung. In Großbritannien nutzen viele die Opt-out-Option und verzichten auf die bAV, während in der Schweiz Konflikte über die Verteilung der Beiträge bestehen – ähnlich wie in unserer Rentenversicherung. Daher muss die §100-Förderung gezielt überarbeitet werden. Das BRSG II war ein erster Schritt, reicht aber nicht. Die starre Einkommensgrenze sorgt für Unsicherheit, da Arbeitgeber die Förderung verlieren, wenn Mitarbeiter diese überschreiten. Eine dynamisierte und höhere Förderung wäre notwendig.

Rehfeldt: Ein verpflichtender Arbeitgeberbeitrag oder die §100-Förderung wären sinnvolle Maßnahmen, reichen aber nicht aus. Das Hauptproblem ist oft mangelnde Beratung, nicht die Finanzierung. Selbst in Niedriglohnbranchen investieren Arbeitnehmer mit 1.800 Euro Bruttogehalt in die bAV – wenn sie die Vorteile verstehen. Neben der Beratung ist der Gesetzgeber gefragt, Vereinfachungen zu schaffen. Die geplante §100-Förderung ist ein guter Ansatz. Wenn Arbeitgeber 100 Euro beisteuern, kann ein Arbeitnehmer mit geringem Eigenaufwand sinnvoll vorsorgen. Besonders Beschäftigte mit 2.000 bis 2.500 Euro Einkommen benötigen rund 200 Euro bAV-Beiträge, die mit staatlicher Förderung und Arbeitgeberzuschüssen mit nur 25 Euro Eigenaufwand möglich wären.

Tänzer: Die Erwartungshaltung der Versicherten wird oft übersehen. Enttäuschung entsteht, wenn sie Kosten in ihren Versorgungskonten sehen – oft wird der Makler dafür verantwortlich gemacht. Doch Beratung ist essenziell und muss vergütet werden. Die bAV-Komplexität erschwert dies. Ein hybrides Modell mit einem automatisierten Basisteil könnte helfen, die Kostendiskussion zu entschärfen. Die Schweiz zeigt, wie ein solches System funktioniert. Dort existiert neben der gesetzlichen Basis ein überobligatorischer Teil, den Unternehmen individuell gestalten können. Dieses System bietet individuelle Zusatzvorsorge bei Invalidität, Krankheit oder Rente. Ein ähnliches Modell könnte in Deutschland eine effiziente Grundlage schaffen.

Musialik: Geringverdiener stehen bei der Altersvorsorge oft zuerst vor der Frage: „Wovon soll ich das finanzieren?“ Diese Skepsis führt dazu, dass sie sich nicht mit dem Thema befassen. Ein Obligatorium hätte den Vorteil, dass sie automatisch in die bAV einbezogen würden. Sie könnten und müssten sich bewusst und aktiv dagegen entscheiden. So würden sie Teil des Systems und begännen, Kapital aufzubauen – auch mit kleinen Beträgen. Entscheidend ist, überhaupt mit dem Sparen zu starten. Ein Obligatorium nimmt diese Hürde und sorgt dafür, dass auch Geringverdiener langfristig von der bAV profitieren.

Wir diskutieren gerade über bAV-Korrekturen. Waren die vergangenen Jahre verlorene Jahre für die betriebliche Vorsorge? 

Berndt: Bereits in der letzten Legislaturperiode unter der Merkel-Regierung gab es Überlegungen für ein BSRG II. Wir könnten also längst weiter sein. Eine zentrale Forderung bleibt, die Verbreitung der bAV, insbesondere bei Geringverdienern. Hier spielt die arbeitgeberfinanzierte §100-Förderung eine entscheidende Rolle. Allerdings fehlt Planungssicherheit, da die starre Einkommensgrenze langfristige Strategien erschwert. Eine gesicherte Förderung könnte verhindern, dass Geringverdiener später auf Grundsicherung angewiesen sind. Zudem begrenzt der §100 durch einen ungezillmerten Tarif bereits die Kosten. Ein weiterer Punkt ist die Vereinfachung der Durchführungswege. Mittelständische Unternehmen müssen verschiedene Modelle kombinieren. Eine bessere Lösung wäre, wenn jeder Durchführungsweg die gleiche Förderung erhält. Diese Reform würde die Verbreitung der bAV beschleunigen und Unternehmen von unnötigem Verwaltungsaufwand entlasten.

Tänzer: Der §100 bietet mehr Potenzial als angenommen. Gerade in Verbindung mit Opting-Out oder einem Obligatorium könnte er die bAV-Verbreitung erheblich steigern. Ein Blick ins Ausland zeigt: Höhere Beteiligung führt oft zu effizienteren Systemen und geringeren Kosten. Eine stärkere Durchdringung durch ein Teil- oder Vollobligatorium würde Spielraum für eine kosteneffizientere Umsetzung schaffen. Ein weiteres Thema ist die Provisionsstruktur. Ratierliche Provisionen schaffen Stabilität und ermöglichen gezielte Kooperationen mit Vertriebspartnern. Ein Problem bleibt die Vertriebsunsicherheit. Wenn eine Versorgungsordnung nur den verpflichtenden 15-Prozent-Zuschuss vorsieht, hängt das Beraterhonorar von der Entgeltumwandlung der Arbeitnehmer ab. Würde der Arbeitgeber direkt feste Beiträge investieren, hätte der Berater eine gesicherte Basis und könnte individuelle Optimierungen vornehmen. 

Lamsfuß: Auch Arbeitgeber brauchen mehr Rechtssicherheit – besonders bei abgesenkten Garantien. Trotz steigenden Höchstrechnungszinses wäre es wenig sinnvoll, sie zu einer 100-Prozent-Garantie zu zwingen. Ein rechtlich abgesichertes Garantieniveau von 80 bis 90 Prozent würde mehr Flexibilität und Planungssicherheit bieten. Ein zentrales Thema ist die sozialpolitische Verantwortung, eine lebenslange Absicherung zu gewährleisten. Es ist problematisch, immer wieder die Diskussion zu führen, ob Leibrenten verpflichtend sein sollten oder nicht – finanzielle Sicherheit bleibt bis zum Lebensende essenziell. Das gilt nicht nur aus sozialpolitischer Perspektive, sondern auch aus Sicht der Steuerzahler: Wenn staatliche Förderung in die bAV fließt, muss sichergestellt sein, dass diese Vorsorge tatsächlich bis zum Lebensende trägt.

Ralf Berndt: „Unsere Forderung bleibt, wir brauchen Rechtssicherheit.“ Foto: Florian Sonntag

Herr Lamsfuß, Sie haben die reduzierte Beitragsgarantie als chancenorientierte Anlage beschrieben. Die Deloitte-Studie zeigt jedoch, dass viele Personalverantwortliche weiterhin 100 % Beitragsgarantie in der bAV bevorzugen. 

Lamsfuß: Ich denke, der Wunsch vieler Arbeitgeber nach einer 100-Prozent-Garantie hängt stark mit der fehlenden Rechtssicherheit in der beitragsorientierten Leistungszusage zusammen. Risikoaverse Arbeitgeber fordern maximale Sicherheit, um Haftungsrisiken zu vermeiden. In der Praxis zeigt sich jedoch ein anderes Bild: Die meisten Abschlüsse erfolgen bereits mit abgesenkten Garantien von 80 bis 90 Prozent. Diese bieten weiterhin hohe Sicherheit und ermöglichen zugleich eine chancenorientierte Kapitalanlage. Wünschenswert wäre eine bessere politische Absicherung dieser Garantien. Das würde nicht nur mehr Vertrauen schaffen, sondern auch den Spielraum für nachhaltige und renditeorientierte Altersvorsorgemodelle erweitern.

Rehfeldt: Ich bin ein klarer Befürworter der reinen Beitragszusage nach angelsächsischem Modell. Mein Wunsch an die Politik: Diese für alle Durchführungswege zu ermöglichen, ohne unternehmens- oder versorgungswerkbezogene Garantien auszuschließen. Arbeitnehmer sollten selbst wählen können, ob sie eine 60-Prozent-Garantie wünschen. Oft wird übersehen, dass Arbeitgeber für Garantien haften. Viele setzen daher auf 100 Prozent-Garantien, um Risiken zu vermeiden – ob Versorgungsträger sie langfristig halten können, bleibt ungewiss. Einige Beitragszusagen mit Mindestleistung könnten sich als nicht tragfähig erweisen. Um die bAV attraktiver zu machen, müssen Bürokratie und Haftung für Arbeitgeber reduziert werden. Studien zeigen, dass das Renditeniveau bei Garantien zwischen 80 und 60 Prozent deutlich steigt, unter 60 Prozent jedoch kaum noch. Angesichts langer Laufzeiten sollten wir mutiger denken. Wir brauchen aber dringend Rechtssicherheit. Diese Entscheidung muss politisch geregelt werden – andernfalls wird es irgendwann das Bundesarbeitsgericht tun. 

Berndt: Das sollten wir unbedingt vermeiden. Wie Frank Lamsfuß bereits betont hat, fordern wir Rechtssicherheit – etwa eine gesetzliche Regelung für eine BOLZ mit 80 Prozent Garantie. Das war auch eine zentrale Forderung im Gesetzgebungsverfahren zum BRSG II. Doch die fehlende Konsequenz der Politik ist offensichtlich. Während das Sozialpartnermodell mit Nullgarantie gesetzlich ermöglicht wurde, weigert sich dasselbe Ministerium, eine reine Beitragszusage für andere Durchführungswege zuzulassen. Das wirkt ideologisch motiviert: Während tarifgebundene Modelle mit Gewerkschaften gefördert werden, bleibt der Mittelstand außen vor. Dies behindert die echte Verbreitung der bAV. Unsere Forderung bleibt: Wir brauchen Rechtssicherheit.

Wie sieht es der Pensionsfondsanbieter? 

Tänzer: Für unsere Branche ist das ein zentrales Thema. Wir arbeiten seit jeher mit der Beitragszusage mit Mindestleistung (BZML), einer 100-Prozent-Beitragszusage, und haben gute Erfahrungen gemacht. Doch unser internationaler Pensionsfonds zeigt, wie unterschiedlich Modelle wirken. In Portugal, mit einem klassischen Beitragszusagesystem, wird deutlich, wie stark Garantien die Flexibilität einschränken. Arbeitgeber legen großen Wert auf Garantien, vor allem wegen der Nachprüfungspflicht. Doch für die bAV-Durchdringung ist das weniger entscheidend. Trotz vieler Ansätze stagniert die Verbreitung. Das Hauptproblem sind nicht allein die Garantien, sondern fehlende Rechtssicherheit und komplexe Rahmenbedingungen. 

Musialik: Ich appelliere an die Politik, endlich Klarheit zu schaffen. Ob 100, 90 , 80 oder 60 Prozent Garantie – wir brauchen eine eindeutige Regelung. Ein weiteres Problem sehe ich beim Verkaufsprozess. Arbeitgeber erhalten oft Angebote mit unterschiedlichen Garantien. Weniger Garantie bedeutet mehr Investitionen in Fonds, da nur ein Teil ins Sicherungsvermögen fließt. So weit, so logisch. Doch selbst bei identischen Bedingungen – gleiche Garantie, gleiche Fonds, gleiche Kosten – können die prognostizierten Ablaufleistungen erheblich voneinander abweichen. Warum? Weil es keine einheitliche Regel für die Hochrechnung der Verträge gibt. Manche Modelle setzen Sicherungsvermögen und Fonds gleich an, andere bewerten sie unterschiedlich. Das sorgt für Verwirrung im Vertrieb. Wenn ich als Berater drei vergleichbare Angebote präsentiere, aber jedes mit einer anderen Ablaufleistung endet, dann fehlt jede Transparenz. 

Karol Musialik: „Geringverdiener stehen bei der Altersvorsorge oft zuerst vor der Frage „Wovon soll ich das finanzieren.“

Foto: Florian Sonntag

Der Begriff ‚War for Talents‘ fällt oft, wenn es um betriebliche Vorsorge geht. Wie zentral ist dieses Argument tatsächlich für Arbeitgeber? Ist die betriebliche Kranken- oder Altersvorsorge primär ein Instrument zur Mitarbeitergewinnung und -bindung, oder spielen andere Faktoren eine ebenso große Rolle?

Lamsfuß: Die bAV ist im Markt ein Hygienefaktor. Ein moderner Arbeitgeber muss eine vernünftige bAV anbieten – sie gehört einfach dazu. Allerdings ist sie längst kein einzigartiges Alleinstellungsmerkmal mehr, um sich im War for Talents entscheidend abzuheben. Ohne bAV geht es zwar nicht, aber sie allein reicht nicht aus, um die Arbeitgeberattraktivität signifikant zu steigern. Anders sieht es bei der bKV aus, die als jüngerer Zweig noch wächst. Wir beobachten, dass die Hauptmotivation für Arbeitgeber klar in der Stärkung ihrer Marke liegt. Ein großer Vorteil der bKV ist ihre Wahrnehmbarkeit: Während die bAV langfristig absichert, erleben Mitarbeiter die Vorteile der bKV sofort. Zudem hat der Arbeitgeber einen direkten Nutzen. Studien belegen, dass eine gute Gesundheitsvorsorge die Arbeitsunfähigkeitsquote senken kann. 

Rehfeldt: Die bAV ist ein Benefit, den man haben muss – doch sie allein hebt einen Arbeitgeber nicht von der Masse ab. Sie wird erst im Unternehmen erlebbar, selbst eine Direktversicherung mit 15 Prozent Arbeitgeberzuschuss erfüllt diese Erwartung. Gezielt eingesetzt kann die bAV jedoch als Bindungsinstrument wirken. Ein Praxisbeispiel: Ein Stufenmodell koppelt die Höhe der bAV an Betriebszugehörigkeit und Gehalt. So weiß ein Mitarbeiter von Beginn an, welche Versorgungsanwartschaft er über die Jahre aufbaut. Regelmäßige Versorgungsurkunden dokumentieren seinen steigenden Anspruch und verstärken die Bindung. Große Unternehmen nutzen solche Modelle mit Direktzusagen, doch sie lassen sich auch versicherungsförmig abbilden. Die bKV hingegen ist ein echter „Kracher“ für Mitarbeiterbindung und -gewinnung. Gesundheit ist emotional. Wenn Arbeitgeber etwa die Versicherungsprämien für Kinder übernehmen, entsteht eine Bindung, die kaum zu übertreffen ist.

Wir hören in Gesprächen immer wieder das Argument, dass die bKV im Zweifelsfall als Türöffner fungiert. 

Lamsfuß: Die aktuelle Markterfahrung zeigt eher das Gegenteil: Die bAV ist häufig der Türöffner für die bKV. Arbeitgeber mit beiden Versorgungsmodellen haben meist ein starkes Verantwortungsbewusstsein und setzen zuerst auf die bAV. Diese ist oft etabliert, bevor die Entscheidung für eine bKV fällt. Auch im Vertrieb zeigt sich dieser Trend: Makler, die bAV-Lösungen implementiert haben, schaffen den Zugang zur bKV. Obwohl die bKV schnell an Akzeptanz gewinnt, hat sie noch keine ausreichende Marktdurchdringung, um selbst als Türöffner für die bAV zu fungieren – eher umgekehrt. Gleichzeitig steigt das Bewusstsein für Gesundheit, besonders im Mittelstand. Inhabergeführte Unternehmen erkennen zunehmend die Bedeutung der Gesundheitsvorsorge und möchten gezielt etwas für ihre Mitarbeiter tun.

Dürfte das bei der Stuttgarter künftig auch der Ansatz werden, wenn Sie mit der SDK fusioniert sind, Herr Berndt? 

Berndt: Das ist einer der Gründe, warum wir diesen Weg mit Begeisterung gehen. Ein zentrales strategisches Ziel – und zugleich ein wichtiger Treiber unserer Entscheidung – ist das Geschäftsfeld betriebliche Vorsorge. In Unternehmen, in denen wir als Stuttgarter bisher ausschließlich die bAV angeboten haben, erleben wir eine starke Nachfrage nach der bKV. Viele Arbeitgeber wünschen sich eine ergänzende Lösung aus einer Hand. Deshalb wird die betriebliche Vorsorge das erste Feld sein, in dem wir – sobald alle aufsichtsrechtlichen und formalen Voraussetzungen erfüllt sind – mit einem gemeinsamen Angebot starten.

Stichwort Nachhaltigkeit. Welche Rolle spielt das Thema in der bAV? Wir hören, dass es im Vertrieb auf wenig Gegenliebe stößt 

Lamsfuß: Auf der vertrieblichen Seite sehe ich nicht so das Problem. Gesellschaftlich gibt es zwar eine hohe Akzeptanz, aber die Regulatorik ist so aufwendig, dass es sehr schwierig ist, das Thema bei der ohnehin bestehenden Komplexität im Beratungsgespräch auch adäquat abzubilden. Und das macht es im Moment fordernd.

Berndt: Die aktuelle regulatorische Situation stellt in der Beratung eine große Herausforderung dar, besonders die vorgeschriebene Präferenzabfrage. In der Praxis ist es schwer, alle Anforderungen zu erfüllen. Gleichzeitig sehen wir ein starkes Interesse von Unternehmen, soziale Verantwortung zu übernehmen – sei es durch bAV, Invaliditätsabsicherung oder bKV. Besonders attraktiv wird dies, wenn sich nachhaltige Aspekte, etwa ESG-Kriterien, einbinden lassen. Unsere Zahlen bestätigen den Trend: Über 50 Prozent des bAV-Neugeschäfts entfallen auf nachhaltige Produkte – ein klares Signal aus der Wirtschaft. Doch das Potenzial wäre noch größer, wenn regulatorische Vorgaben einfacher und transparenter wären. 

Musialik: Nachhaltigkeit hat bei der Bayerischen eine neue Dimension eröffnet. Ein Meilenstein war 2017 die Auflage unseres  Pangaea Life-Fonds. In Kundengesprächen zeigte sich, dass dieser Fonds eine neue Verständlichkeit schafft: Er investiert gezielt in Windkraft- und Solaranlagen, macht Nachhaltigkeit greifbar und zeigt konkret, wohin die Beiträge fließen. Plötzlich verlagerte sich die Diskussion weg von abstrakten Versicherungsmodellen hin zu realen Projekten. Kunden konnten sich identifizieren. Das war ein Erfolgserlebnis – ein Versicherungsthema, das echte Begeisterung weckte. Doch Nachhaltigkeit allein reicht nicht. Kunden erwarten, dass nachhaltige Investments nicht nur ethisch sinnvoll, sondern auch finanziell attraktiv sind. Erst die Kombination macht das Gesamtpaket überzeugend.

Frank Lamsfuß: „Die Politik muss jetzt handeln, in einem Jahrzehnt wird es zu spät sein.“ Foto: Florian Sonntag

Ohne die Digitalisierung wird die bAV nicht die Relevanz bekommen. Wo steht hier der Markt?

Rehfeldt: Die Digitalisierung der bAV ist eine große Herausforderung. Unterschiedliche Schnittstellen, Formate und Verwaltungssysteme erschweren die Umsetzung. Mit 16 bAV-Varianten und 200 bis 300 Versorgungsträgern ergibt sich eine enorme Vielfalt. Versicherungsscheine und Versorgungszusagen sind oft nicht digital verfügbar, obwohl Arbeitgeber genau das erwarten. Viele arbeiten noch mit Papierakten, selbst große Anbieter wie DATEV oder SAP haben nicht alle Prozesse digitalisiert. Personalabteilungen wünschen sich einfache, automatisierte Abläufe – doch oft scheitert es an der Praxis. Während Arbeitgeberverwaltung digital funktioniert, dominieren danach oft noch Papierprozesse. Einige Versicherer verweigern PDF-Dokumente und setzen weiter auf Postversand. Auch in der bKV erschweren verschiedene Tarife und Systeme die Verwaltung. Die Zukunft liegt in Schnittstellen und KI: eine zentrale, automatisierte Lösung, die alle Systeme vernetzt und Prozesse auf einen Knopfdruck reduziert. Genau das wünschen sich viele Personaler.

Abschließende Frage: Wir werden im Frühjahr eine neue Bundesregierung bekommen. Welche Forderungen haben Sie an die Politik? 

Tänzer: Die betriebliche Vorsorge muss entpolitisiert werden. Ein aktueller ZDF-Bericht zeigte, wie unser Arbeitsminister die Einschätzungen der Wirtschaftsweisen abtat: „Das ist deren Meinung.“ Doch wenn wir Experten beauftragen, müssen wir auf sie hören. Die Renten- und Versorgungssysteme, insbesondere die bAV, brauchen tiefgreifende Reformen und klare Strukturen. Vereinfachung und Entpolitisierung sind essenziell. Trotz politischer Herausforderungen blicken wir optimistisch auf 2025. Wir haben gelernt, uns an die Rahmenbedingungen anzupassen und unser Geschäft entsprechend auszurichten.

Lamsfuß: In der bKV wäre es sinnvoll, ein Drei-Säulen-Modell zu etablieren – bestehend aus der Grundversorgung über die gesetzliche Krankenversicherung, einer betrieblichen Säule und der privaten Vorsorge. Würde die steuerliche Behandlung an die bAV angelehnt, wäre die bKV für Arbeitgeber attraktiver und besser kalkulierbar – ein echter Wachstumstreiber, der zudem das GKV-System entlasten könnte. Zudem sehe ich die Pflegeversicherung als einen der größten sozialen Sprengsätze der Zukunft. Ein Blick auf die Demografie reicht aus, um zu erkennen, was auf uns zukommt: Die Babyboomer-Generation geht in Rente. Die Politik muss jetzt handeln, denn in einem Jahrzehnt wird es zu spät sein. Das ist der letzte Weckruf für eine echte Reform.

Musialik: Ich wünsche mir von der Politik vor allem eines: klare und gerechte Regeln für die Altersvorsorge. Statt Interpretationsspielräume zu lassen, braucht es eindeutige Vorgaben, damit Unternehmen, Berater und Bürger wissen, worauf sie sich verlassen können. Die junge Generation ist sich der Herausforderung, die auf sie zukommt, noch nicht bewusst. Unsere Rente ist alles andere als sicher, und genau hier brauchen wir ein nachhaltiges, gerechtes System, das langfristig funktioniert.

Rehfeldt: Eine zusätzliche Förderung der bAV ist sinnvoll; zudem braucht die gesetzliche Rentenversicherung Reformen. Dafür müssen wir über Besitzstände sprechen. Das ist unangenehm. Vielleicht gelingt es einer neuen Regierung, echte Reformen anzustoßen. In der bKV und Pflegeversicherung wäre ein steuerfreier Arbeitgeberbeitrag wünschenswert. Es gab Entwürfe, doch sie wurden nie umgesetzt. Zudem muss Altersvorsorge gerechter werden. Ein Solidarsystem funktioniert nur, wenn alle dazu beitragen. Wenn sich 50 Prozent der Bevölkerung finanziell zurückziehen, wächst die Belastung für wenige. Mutige Entscheidungen sind nötig – und die Zeit dafür ist jetzt. 

Dieser Artikel ist Teil des EXTRA Betriebliche Vorsorge. Alle Artikel des EXTRA finden Sie hier.

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