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EXTRA Betriebliche Vorsorge – Roundtable: „Das ist der letzte Weckruf für eine Reform“

Foto: Florian Sonntag
Die Diskussionsteilnehmer von links: Ralf Berndt, Vorstand Vertrieb, Marketing & bAV, Die Stuttgarter; Karsten Rehfeldt, Geschäftsführer BBVS, Beratungsgesellschaft für betriebliche Vorsorgesysteme; Sven Tänzer, CEO enovetic global sa; Karol Musialik, Generalbevollmächtigter & Aktuar Leben, Die Bayerische Lebensversicherung; Frank Lamsfuß, Vorstand Vertrieb, Marketing & IT, BarmeniaGothaer

Das ist der letzte Weckruf für eine echte Reform – so eindringlich fällt das Fazit der Gesprächsrunde beim Cash. Extra Betriebliche Vorsorge aus. Trotz beeindruckender Wachstumszahlen in der bAV und bKV sehen die Experten immer noch strukturelle Hürden: zu viel Bürokratie, fehlende Rechtssicherheit und unklare politische Rahmenbedingungen.

Wir stehen am Jahresbeginn und der eignet sich wunderbar für einen Rückblick. Wie hat sich das betriebliche Vorsorgegeschäft bei Ihnen entwickelt? 

Lamsfuß: Der Zusammenschluss von Barmenia und Gothaer im Jahr 2024 war ein wichtiger Schritt für uns. Die betriebliche Vorsorge bleibt dabei ein zentrales und wachsendes Geschäftsfeld. Besonders in der betrieblichen Altersvorsorge (bAV) konnten wir ein Rekordjahr verzeichnen. Auch in der betrieblichen Krankenversicherung (bKV) behaupten wir unsere starke Marktposition und freuen uns über das erfolgreiche Neugeschäft. Mit diesen Ergebnissen blicken wir optimistisch in die Zukunft.

Berndt: Das kann ich nur bestätigen. Für uns als Stuttgarter ist die bAV eines der zentralen strategischen Geschäftsfelder. Bereits 2023 haben wir mit einer Neugeschäftssteigerung von 30 Prozent ein Rekordergebnis erzielt. Diese beeindruckende Entwicklung konnten wir im vergangenen Jahr um weitere rund zehn Prozent steigern, womit wir ein neues Allzeithoch erreicht haben. Der Anteil der bAV am gesamten Neugeschäft liegt nun bei über 30 Prozent. 

Musialik: Bei der Bayerischen verzeichnen wir eine ähnliche Entwicklung. Unser Neugeschäft ist im Vergleich zu 2023 um 9,1 Prozent gewachsen. Besonders in der bAV konnten wir sogar überdurchschnittlich zulegen. Angesichts dieser positiven Entwicklung stellt sich die Frage, wo die Unternehmen sind, die weniger Wachstum verzeichnen, da der Markt insgesamt als stagnierend gilt.

Rehfeldt: Im Bereich der bAV haben wir das Vorjahresergebnis gehalten, auch wenn wir eine gewisse Zurückhaltung seitens der Arbeitgeber spüren. Dafür hat sich unser Geschäft in der bKV versechsfacht. Auch die betriebliche Berufsunfähigkeitsversicherung hat sich verdoppelt. Insgesamt sind wir sehr zufrieden, insbesondere da unser Beratungsgeschäft erheblich an Dynamik gewonnen hat.

Tänzer: Wir sind als Pensionsfondsanbieter wahrscheinlich der jüngste Player in diesem Marktsegment, was sich auch in unseren Wachstumsraten widerspiegelt. Im vergangenen Jahr konnten wir unser Geschäft verfünffachen – ein deutlicher Anstieg. 2024 war für uns ein äußerst erfolgreiches Jahr, und die aktuelle Entwicklung deutet darauf hin, dass dieser positive Trend anhält.

Karsten Rehfeldt: „In der bAV haben wir eine gewisse Zurückhaltung. Dafür hat sich unser Geschäft mit der bKV
versechsfacht.“

Foto: Florian Sonntag

Neuere bAV-Studien aus 2024 – etwa von Deloitte oder der Generali – sehen den Markt auf der Stelle treten, gerade im Mittelstand. Was hemmt die Durchdringung? 

Berndt: Die geringe Verbreitung der bAV im Mittelstand ist kein neues Phänomen. Umgekehrt bedeutet das: hier liegt großes Potenzial. Als mittelständischer Versicherer verstehen wir die Herausforderungen dieser Unternehmen und bieten passende Lösungen. Absolut betrachtet wächst die bAV. Der Eindruck von Stagnation entsteht, weil die Zahl der Erwerbstätigen schneller steigt. In der Beratung sehen wir keine Verunsicherung. Früher dominierte die Entgeltumwandlung; durch den Fachkräftemangel zahlen viele Arbeitgeber inzwischen Zuschüsse über 15 Prozent hinaus. Dies steigert die Durchdringung. Unternehmen wünschen sich einfache Lösungen, um bürokratischen Aufwand, Abmeldungen und Fluktuation effizient zu managen.

Lamsfuß: Der Arbeitgeberzuschuss ist ein wesentlicher Treiber. Besonders in Unternehmen, die über die gesetzlich vorgeschriebenen 15 Prozent hinausgehen, steigt die Akzeptanz spürbar, was sich in einer höheren Durchdringung zeigt. Zudem hängt der Verbreitungsgrad stark von den Beratungsangeboten ab. Wo eine persönliche Beratung erfolgt sehen wir deutlich höhere Teilnahmequoten – in einigen Fällen sogar bis zu 80 Prozent. Das zeigt, wie entscheidend gezielte Information und individuelle Betreuung für den Erfolg der bAV sind.

Musialik: Die Politik diskutiert viel, trifft aber keine klaren Entscheidungen. Gleichzeitig muss der Personalleiter eine Wahl für hunderte Mitarbeiter treffen, ohne verlässliche Rahmenbedingungen. Das erschwert die Umsetzung einer bAV erheblich. Ein weiteres Problem sehe ich darin, dass viele Arbeitnehmer ihre bAV nicht nutzen, obwohl sie ihnen angeboten wird – schlicht, weil sie sich nicht aktiv damit befassen. Ohne ein Opt-out-Modell bleibt viel Potenzial ungenutzt. Eine automatische Einbindung wäre daher dringend notwendig.

Herr Rehfeldt, was registrieren Sie in der Beratung? 

Rehfeldt: In großen Unternehmen ist die Durchdringung durch tarifvertragliche Regelungen meist höher, während im Mittelstand häufig Matching-Modelle mit Entgeltumwandlung und Zuschüssen vorherrschen. Der Fachkräftemangel treibt jedoch die arbeitgeberfinanzierten Beiträge nach oben. Doch Monatsbeiträge von 100 Euro reichen nicht aus – 200 bis 300 Euro wären nötig. Ein zentrales Hemmnis bleibt der Verwaltungsaufwand. Mit sechs Durchführungswegen und drei Zusagearten ergeben sich 16 mögliche Varianten. Das verstehen selbst Fachleute kaum noch. Diese Komplexität führt oft dazu, dass Unternehmen kein Angebot bereitstellen oder sich auf veraltete Modelle stützen. Hinzu kommt die politische Unsicherheit. 

Sven Tänzer: „Beratung ist essenziell und muss vergütet werden.“ Foto: Florian Sonntag

Eine weitere Erkenntnis aus den genannten Studien ist, dass über ein Viertel der Arbeitnehmer mit unterdurchschnittlichem Einkommen nicht spart, weil finanziellen Mittel fehlen. Welche Maßnahmen sind nötig, damit Geringverdiener nicht durch das bAV-Raster fallen?

Berndt: Unsere Hauptzielgruppe sollten in der Tat Geringverdiener sein. Allerdings sind weder ein Opting-Out-Modell noch eine verpflichtende bAV die optimale Lösung. In Großbritannien nutzen viele die Opt-out-Option und verzichten auf die bAV, während in der Schweiz Konflikte über die Verteilung der Beiträge bestehen – ähnlich wie in unserer Rentenversicherung. Daher muss die §100-Förderung gezielt überarbeitet werden. Das BRSG II war ein erster Schritt, reicht aber nicht. Die starre Einkommensgrenze sorgt für Unsicherheit, da Arbeitgeber die Förderung verlieren, wenn Mitarbeiter diese überschreiten. Eine dynamisierte und höhere Förderung wäre notwendig.

Rehfeldt: Ein verpflichtender Arbeitgeberbeitrag oder die §100-Förderung wären sinnvolle Maßnahmen, reichen aber nicht aus. Das Hauptproblem ist oft mangelnde Beratung, nicht die Finanzierung. Selbst in Niedriglohnbranchen investieren Arbeitnehmer mit 1.800 Euro Bruttogehalt in die bAV – wenn sie die Vorteile verstehen. Neben der Beratung ist der Gesetzgeber gefragt, Vereinfachungen zu schaffen. Die geplante §100-Förderung ist ein guter Ansatz. Wenn Arbeitgeber 100 Euro beisteuern, kann ein Arbeitnehmer mit geringem Eigenaufwand sinnvoll vorsorgen. Besonders Beschäftigte mit 2.000 bis 2.500 Euro Einkommen benötigen rund 200 Euro bAV-Beiträge, die mit staatlicher Förderung und Arbeitgeberzuschüssen mit nur 25 Euro Eigenaufwand möglich wären.

Tänzer: Die Erwartungshaltung der Versicherten wird oft übersehen. Enttäuschung entsteht, wenn sie Kosten in ihren Versorgungskonten sehen – oft wird der Makler dafür verantwortlich gemacht. Doch Beratung ist essenziell und muss vergütet werden. Die bAV-Komplexität erschwert dies. Ein hybrides Modell mit einem automatisierten Basisteil könnte helfen, die Kostendiskussion zu entschärfen. Die Schweiz zeigt, wie ein solches System funktioniert. Dort existiert neben der gesetzlichen Basis ein überobligatorischer Teil, den Unternehmen individuell gestalten können. Dieses System bietet individuelle Zusatzvorsorge bei Invalidität, Krankheit oder Rente. Ein ähnliches Modell könnte in Deutschland eine effiziente Grundlage schaffen.

Musialik: Geringverdiener stehen bei der Altersvorsorge oft zuerst vor der Frage: „Wovon soll ich das finanzieren?“ Diese Skepsis führt dazu, dass sie sich nicht mit dem Thema befassen. Ein Obligatorium hätte den Vorteil, dass sie automatisch in die bAV einbezogen würden. Sie könnten und müssten sich bewusst und aktiv dagegen entscheiden. So würden sie Teil des Systems und begännen, Kapital aufzubauen – auch mit kleinen Beträgen. Entscheidend ist, überhaupt mit dem Sparen zu starten. Ein Obligatorium nimmt diese Hürde und sorgt dafür, dass auch Geringverdiener langfristig von der bAV profitieren.

Wir diskutieren gerade über bAV-Korrekturen. Waren die vergangenen Jahre verlorene Jahre für die betriebliche Vorsorge? 

Berndt: Bereits in der letzten Legislaturperiode unter der Merkel-Regierung gab es Überlegungen für ein BSRG II. Wir könnten also längst weiter sein. Eine zentrale Forderung bleibt, die Verbreitung der bAV, insbesondere bei Geringverdienern. Hier spielt die arbeitgeberfinanzierte §100-Förderung eine entscheidende Rolle. Allerdings fehlt Planungssicherheit, da die starre Einkommensgrenze langfristige Strategien erschwert. Eine gesicherte Förderung könnte verhindern, dass Geringverdiener später auf Grundsicherung angewiesen sind. Zudem begrenzt der §100 durch einen ungezillmerten Tarif bereits die Kosten. Ein weiterer Punkt ist die Vereinfachung der Durchführungswege. Mittelständische Unternehmen müssen verschiedene Modelle kombinieren. Eine bessere Lösung wäre, wenn jeder Durchführungsweg die gleiche Förderung erhält. Diese Reform würde die Verbreitung der bAV beschleunigen und Unternehmen von unnötigem Verwaltungsaufwand entlasten.

Tänzer: Der §100 bietet mehr Potenzial als angenommen. Gerade in Verbindung mit Opting-Out oder einem Obligatorium könnte er die bAV-Verbreitung erheblich steigern. Ein Blick ins Ausland zeigt: Höhere Beteiligung führt oft zu effizienteren Systemen und geringeren Kosten. Eine stärkere Durchdringung durch ein Teil- oder Vollobligatorium würde Spielraum für eine kosteneffizientere Umsetzung schaffen. Ein weiteres Thema ist die Provisionsstruktur. Ratierliche Provisionen schaffen Stabilität und ermöglichen gezielte Kooperationen mit Vertriebspartnern. Ein Problem bleibt die Vertriebsunsicherheit. Wenn eine Versorgungsordnung nur den verpflichtenden 15-Prozent-Zuschuss vorsieht, hängt das Beraterhonorar von der Entgeltumwandlung der Arbeitnehmer ab. Würde der Arbeitgeber direkt feste Beiträge investieren, hätte der Berater eine gesicherte Basis und könnte individuelle Optimierungen vornehmen. 

Seite 2: „Mehr Rechtssicherheit – besonders bei abgesenkten Garantien“

Lesen Sie hier, wie es weitergeht.

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