Dass die EZB gestern ihren Leitzins um 50 Basispunkte anhob, war bereits erwartet worden. Die große Überraschung war jedoch, dass sie ihre „Forward Guidance“ deutlich abschwächte. Es war nicht mehr die Rede davon, den Leitzinsen in Zukunft in gleichmäßigem Tempo anheben zu „müssen“, sondern nur noch, dies zu „beabsichtigen“. Um eine ausgewogenere Analyse zu präsentieren, gab Frau Lagarde mehr Erläuterungen zu Aktivität und Inflation und kam letztendlich zu dem Schluss, dass die EZB ihre Geldpolitik auf der Grundlage ihrer Wirtschaftsprognosen bewerten wird. Der Markt wird daher sein angestrebtes Zinsziel wohl um 15 Basispunkte senken. In diesem Zuge wird sich die 10-jährige Bundesanleihe bei einer Handelsspanne von 2 bis 2,5 Prozent positionieren.
Klare Bereitschaft, eine Rezession zu vermeiden
Der weniger aggressive Ausblick der EZB zeigt, dass die Währungshüter bereit sind, die Konjunktur nicht zu stark zu beanspruchen und so das Risiko einer Rezession zu vermeiden. Dennoch dürfte ihre Entscheidung, die Zinssätze zu erhöhen, die Geschäftsbanken zu einer weiteren Verschärfung ihrer Kreditkonditionen veranlassen. Dies wird sicher den Verbrauch der privaten Haushalte und die Unternehmensinvestitionen weiter dämpfen. Wir rechnen daher mit einer schleppenden Konjunktur im Jahr 2023, was sich auf die inländische Inflation auswirken wird, insbesondere auch, weil der Dienstleistungssektor stark mit der Nachfrage der Haushalte verknüpft ist.
Bei Anleihen wird die veränderte Analyse der EZB kurz- bis mittelfristige Titel wohl weniger risikoreich und in Relation attraktiver machen – insbesondere nichtstaatliche Anleihen, im Vergleich zu Anleihen mit langen Laufzeiten. Hier gehen wir von einem Ende der Inversion der Renditekurve aus.
Schnelle Reaktion auf fallende Energiepreise überrascht Märkte
Insgesamt unterscheidet sich die Botschaft der EZB deutlich von der „hawkishen“ Haltung, die sie auf ihrer Dezembersitzung zeigte und die auch noch in den Interviews der Währungshüter in den vergangenen Wochen zu spüren war. Die EZB hat schnell auf die niedrigeren Energiepreise und die strengeren Kreditvergabestandards reagiert, was der Markt unterschätzt hatte. Bemerkenswert ist, dass die Zentralbank ankündigte, fällig werdende Unternehmensanleihen in Wertpapiere zu reinvestieren, die stärker auf Emittenten mit besserer Klimabilanz ausgerichtet sind.
Autor Patrick Barbe ist Head of European Investment Grade Fixed Income bei dem US-amerikanischen Vermögensverwalter Neuberger Berman.