Patientenakten, die mit unzutreffenden Diagnosen gefüllt sind, scheinen in Deutschland keine Seltenheit zu sein. „So etwas taucht bei uns fast täglich auf“, zitierte das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ in der vergangenen Woche den Versicherungsmakler und Cash.-Kolumnisten Bastian Kunkel. Laut Kunkel haben rund die Hälfte seiner Kundinnen und Kunden Diagnosen in ihren Krankenakten, von denen sie nichts wissen. Als Beispiele nennt er Männer, bei denen Schwangerschaftsbehandlungen vermerkt seien, oder eine Studentin, die laut ihrer Akte suizidgefährdet war. Das gehe so lange gut, bis sie eine BU-Versicherung abschließen oder in die private Krankenversicherung wechseln wollen. Etwa ein Viertel der Betroffenen sei wegen solcher Einträge nicht mehr an private Versicherungen vermittelbar, schätzt Kunkel.
Warum so etwas überhaupt passiert, erläuterte Kunkel in einem Exklusiv-Beitrag für Cash.Online: Das Problem liege unter anderem im Abrechnungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung. „Ärzte erhalten Pauschalen für Behandlungen, und diese sind oft schnell ausgeschöpft. Manche Behandlungen können nur dann mit der Krankenkasse abgerechnet werden, wenn eine bestimmte Diagnose gestellt wird – selbst wenn sie nicht wirklich existiert“, so Kunkel. Eine „fehlerhafte“ Abrechnung könne also rein wirtschaftliche Gründe haben.
Cash. hat BU-Versicherer um eine Stellungnahme gebeten. Sind sie häufig mit der Problematik solch falscher Diagnosen konfrontiert? Und wie handhaben sie solche Fälle in der Praxis?
„Wir erleben sowohl im Underwriting als auch in der Leistungsprüfung der Berufsunfähigkeitsversicherung immer wieder einmal Fälle, in denen falsche Diagnosen in der Krankenakte stehen und wir vom Kunden oder Vermittler darauf hingewiesen werden“, bestätigt Nadine Beeckmann, Leiterin Service-Center-Privatkunden bei der Alte Leipziger Lebensversicherung, die Problematik. Man habe aber noch keine Standardlösung, mit solchen Fällen umzugehen. „Wir bitten die Kunden um eine Stellungnahme zu dem Eintrag, um aufzuklären, warum an diesem Tag der Arzt konsultiert wurde und was nach Einschätzung unseres Kunden zu dieser Diagnose geführt hat. Eine Stellungnahme vom Arzt bekommen wir selten.“ In einigen Fällen lasse sich schnell erkennen, dass es sich um falsche Diagnosen bzw. fehlerhafte Einträge in der Akte handelt. „Diese ignorieren wir. In anderen Fällen sprechen wir auch mal eine Zurückstellung aus, zum Beispiel wenn der Eintrag erst wenige Monate oder Wochen alt ist, um zu prüfen, ob es sich wirklich um eine Falsch-Diagnose handelt.“
Bei HDI werde man regelmäßig mit unzutreffenden Diagnosen konfrontiert, erklärt eine Unternehmenssprecherin. Eine vermehrte bzw. gestiegene Anzahl von unzutreffenden Diagnosen könne man aber nicht feststellen. „Bei relevanten Diagnosen bzw. Behandlungen gemäß Patientenakte, welche der Antragstellerin bzw. dem Antragsteller nicht bekannt sind, erfolgt eine Prüfung durch unsere Spezialisten. Hierbei schauen wir uns jeden Fall individuell an und bitten, falls erforderlich, um Stellungnahme des behandelnden Arztes. Dadurch lassen sich viele ‚Fehldiagnosen‘ ausräumen und klären.“ Eine pauschale Ablehnung des Versicherungsschutzes erfolge nicht.
Die Stuttgarter Lebensversicherung betont, dass ihre Einschätzungen grundsätzlich nicht auf Abrechnungsdiagnosen beruhen, sondern auf Eigenangaben der zu versichernden Person und beigefügten ärztlichen Befundberichten. Allein mit Abrechnungsdiagnosen könne keine Risikoeinschätzung vorgenommen werden. „Zwischen dem tatsächlichen Krankheitsbild und den abgerechneten Diagnosen liegt eine weite Bandbreite. Daher fordern wir zur Klarstellung wiederum Eigenangaben der zu versichernden Person an. Bei starken Diskrepanzen ist auch mal eine Stellungnahme oder gar Korrektur des behandelnden Arztes erforderlich. In der Regel schaffen wir aber bereits Klarheit durch Stellungnahme der zu versichernden Person und durch vorhandene ärztliche Befundberichte.“
„Nicht in der geschilderten Ausprägung“
Die Stuttgarter empfiehlt ihren Kunden und Vermittlern, sich bereits vor Antragsstellung ausgiebig mit der Krankengeschichte und den Krankenkassenauszügen (Abrechnungsdiagnosen) zu beschäftigen: „Zumal zum Zeitpunkt der Antragsstellung, anders als im späteren Leistungsfall, die Aufzeichnungen und Erinnerungen an zurückliegende Erkrankungen, Untersuchungen und Behandlungen meist noch frisch sind und daher besser klargestellt werden können.“ In der Leistungsbearbeitung spielten Abrechnungsdiagnosen nur eine geringe Rolle von deutlich unter zehn Prozent. „Hier haben die Patientenakten grundsätzlich eine untergeordnete Rolle, da immer die Ärzte konkret zu Erkrankungen und Diagnosen befragt werden“, teilt der Versicherer mit.
Der Volkswohl Bund wiederum erklärt auf Anfrage, unplausible Diagnosen kämen dort im Bereich der Berufsunfähigkeitsversicherung in Einzelfällen zwar vor, nicht aber in der im „Spiegel“ geschilderten Ausprägung. „Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass die Unterlagen und Auskünfte der Ärzte und der Krankenkassen richtig sind“, betont Pressesprecherin Simone Szydlak. Wenn sich herausstelle, dass die abgerechneten Diagnosen nicht korrekt waren, lasse sich das nur über den Versicherten und seinen Arzt aufklären.
Ob der Arzt dann aber zu einer konstruktiven Mitarbeit bereit ist, ist fraglich. „Manche Ärzte ignorieren solche Anfragen. Andere bestreiten, dass ein Fehler vorliegt“, sagt Kunkel. In Einzelfällen, so berichtet der „Spiegel“, haben Ärzte ihren Patienten sogar mit rechtlichen Schritten gedroht, wenn sie eine Korrektur forderten.