Machen wir es uns als Gesellschaft nicht zu einfach, wenn wir die Verantwortung für Themen wie Finanzbildung – oder auch Medienkompetenz – immer in Richtung der Schulen abschieben?
Lindner: Wir sind, wie der Philosoph Peter Sloterdijk einmal gesagt hat, ein Volk von Delegationskünstlern. Im Zweifel ist jemand anderes zuständig, nach dem Motto: Der Kollege Staat kommt gleich! Ich sehe da den Bedarf für eine Umkehr. Wir werden unseren Lebensstandard, unseren Wohlstand, unsere soziale Sicherheit und unser ökologisches Verantwortungsgefühl so nicht behaupten können. Wir brauchen mehr Eigenverantwortung, Respekt vor Leistung, Anerkennung unternehmerischer Risiken und die Offenheit, dafür die Extrameile zu gehen – etwas zu wagen, nicht nur am Bestehenden festzuhalten. Sonst werden wir langsam aber sicher abgleiten und uns in ein paar Jahren wundern, dass Deutschland nicht mehr in der Spitzengruppe ist, sondern abgeschlagen im Mittelfeld. Der Weg nach unten ist bereits eingeschlagen, aber noch ist Umkehr möglich. Wenn wir noch ein Jahrzehnt so weitermachen wie in der Ära Merkel, werden wir irreversible Veränderungen sehen.
Sie haben im Jahr 2017 nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungsgespräche den Satz geprägt: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ Wie würden Sie die letzten drei Ampel-Jahre unter diesen Satz subsumieren?
Lindner: Es war nicht alles schlecht, aber es reichte bei weitem nicht aus. Wir haben das Land gut und ohne wirtschaftliche Strukturverluste durch die Krise gebracht. Eine Reihe von Modernisierungsprojekten konnte auf den Weg gebracht werden, dabei denke ich zum Beispiel an das Zukunftsfinanzierungsgesetz. Wir haben die Haushaltspolitik normalisiert und es geschafft, die Inflation nicht weiter zu befeuern, sondern zu bekämpfen. Und wir haben steuerlich entlastet. Aber die Aufgaben sind jetzt ungleich größer und das, was die Ampel zu leisten vermochte, reichte nicht aus für das, was das Land jetzt braucht. Deshalb ist es richtig, dass die Menschen am 23. Februar die Richtungsentscheidung treffen, für die die Regierung Scholz nicht mehr die Kraft hatte. Konkret: Die Ausdehnung und die Kosten unseres Staates sind aus dem Ruder gelaufen. Wir müssen für einen Aufschwung die Bürger und die Wirtschaft entlasten, Bürokratie abbauen, Behörden wie das Umweltbundesamt auflösen, die grüne Klimapolitik mit ihren irrealen Subventionen realistischer gestalten. Es muss gelten: Bürokratie runter, Netto rauf! Gerade bei der Entlastung der Bürger und Wirtschaft ist der Handlungsbedarf groß – wir haben da ganz konkrete Ziele: Der Soli muss komplett abgeschafft werden. Der Spitzensteuersatz soll sich künftig an der aktuellen Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung orientieren – damit würde er nicht mehr schon ab einem Jahreseinkommen von gut 68.000 Euro, sondern erst ab 96.600 Euro greifen. Den Grundfreibetrag wollen wir um mindestens 1.000 Euro anheben. Mit einem Grunderwerbsteuerfreibetrag für die erste selbstgenutzte Immobilie soll der Zugang zu Eigentum leichter werden. Und durch die Wiedereinführung einer Spekulationsfrist für private Veräußerungsgewinne aus Wertpapieren wollen wir die langfristige Kapitalanlage zur Altersvorsorge unterstützen.
Trafen sich im Dezember zum Interview in Berlin (von links): Jörg Droste, Christian Lindner und Kim Brodtmann (Foto: Christof Rieken)
Bundeskanzler Scholz hat Ihnen im Bundestag die sittliche Reife abgesprochen. Eine bemerkenswerte Aussage, die deutliche Kritik nach sich gezogen hat. Wie bewerten Sie das?
Lindner: Mein Prinzip ist, Steine, die mir hinterhergeworfen werden, nicht zurückzuwerfen. Ich erinnere, dass die Altbundeskanzlerin Merkel solcherlei Äußerungen ihres Nachfolgers ja eingeordnet hat. Ich stelle einfach nur historisch fest, dass Deutschland dringend eine Neuausrichtung der Wirtschafts- und Finanzpolitik braucht. Wir sind in einer sich zuspitzenden Wirtschaftskrise. Im Übrigen ist unsere Gesellschaft auch polarisiert, weil die Menschen den Eindruck haben, dass der Staat seinen wesentlichen Aufgaben nicht nachkommt und sich mit ärgerlicher Bürokratie verzettelt. Und wenn es hier nicht die Möglichkeit gibt, zu neuer Politik zu kommen, sind neue Wahlen unausweichlich. Das hat etwas mit Verantwortungsbewusstsein zu tun. Ich bekenne mich jedenfalls dazu, dem Kanzler gesagt zu haben: neue Politik oder neue Wahlen! Das habe ich getan, trotz großer politischer Risiken und unter Absehung von individuellen Interessen. Einfach, weil es für unser Land das Richtige ist. Denn wenn sich die Politik nicht ändert, werden die Menschen 2029 die Systemfrage stellen.
CSU-Chef Markus Söder ist strikt gegen eine Koalition der Union mit den Grünen. Ist es schlau, Koalitionen mit anderen demokratischen Parteien wie den Grünen grundsätzlich auszuschließen – gerade wenn man sich die Wahlerfolge von demokratiefeindlichen Parteien wie der AfD ansieht?
Lindner: Schneidet die AfD nicht auch deshalb so gut ab, weil wir seit 2013 sehr viel Einfluss linker Parteien auf die politische Linie in unserem Land hatten? Weil die Politik von SPD und Grünen sehr viel Bürokratie und Bevormundung gebracht hat, ungelöste Probleme der irregulären Migration und eine ideologisierte Klima- und Energiepolitik, die den Menschen die Jobperspektive kostet? Eigentlich müssten Union und FDP doch gemeinsam den Bürgerinnen und Bürgern ein Angebot unterbreiten, um insbesondere die gemäßigten Wähler der AfD für eine Politik der Mitte zu gewinnen. Denn das sind nicht alles Rechtsextreme, wie uns gerne glauben gemacht wird. Da sind auch sehr gemäßigte Bürgerinnen und Bürger dabei, die aber nicht weiter diesen links-grünen Mainstream in unserem Land wollen, der zu viel Einfluss hatte und dessen Folgen wir jetzt wirtschafts- und gesellschaftspolitisch sehen.
Aber nochmal nachgehakt: Finden Sie es richtig, Koalitionen mit anderen demokratischen Parteien wie den Grünen grundsätzlich auszuschließen?
Lindner: Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, denn ich habe mich ja fast drei Jahre der Mühe unterziehen müssen, mit SPD und Grünen auf einen Nenner zu kommen. Und ich kann Ihnen sagen: Eine Ampel schließe ich aus.
Das Gespräch führten Kim Brodtmann und Jörg Droste, beide Cash.