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Finanzvermittler an die Schulen? „Es geht nicht um Interessenvertretung oder Lobbyismus“

Norman Wirth
Foto: Wirth Rechtsanwälte/Bettina Straub
Norman Wirth

Warum ist es so schlecht um die Finanzbildung in Deutschland bestellt? Und könnten – bzw. sollten – Finanzvermittler bei der finanziellen Aufklärung an den Schulen unterstützen? Dazu befragte Cash. AfW-Vorstand Norman Wirth.

Sie haben in einer Replik auf einen Artikel im „Versicherungsmonitor“ die Finanzbildung in Deutschland als „Desaster“ bezeichnet. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Wirth: Vor ein paar Jahren ging ein Facebook-Post viral. Eine junge Frau schrieb sinngemäß: „Ich kann eine Gedichtanalyse schreiben und weiß, dass das mitochondriale Genom maternal vererbt wird – aber ich habe keine Ahnung, wie ich eine Steuererklärung mache, eine Wohnung miete oder für meine Rente vorsorge. Danke, Bildungssystem!“ Dieser Post wurde tausendfach geteilt und hat eine riesige Diskussion ausgelöst. Warum? Weil er den Punkt trifft: Unser Bildungssystem bereitet junge Menschen nicht auf die finanziellen Realitäten des Lebens vor. Und das ist kein Zufall, sondern strukturelles Versagen. Es gibt unzählige Studien, die das belegen:

  • Die OECD-Finanzkompetenz-Studie zeigt, dass Deutschland nur Mittelmaß ist – junge Menschen haben massive Wissenslücken.
  • Die „Pisa“-Tests zur Finanzbildung belegen, dass Schüler in Ländern wie Kanada oder Australien viel besser auf das Thema vorbereitet sind.
  • Die Bundesbank-Studie zur Finanzkompetenz zeigt, dass viele Deutsche grundlegende Finanzbegriffe nicht verstehen – sei es Inflation, Zinsen oder Altersvorsorge.
  • Der Schuldner-Atlas Deutschland macht jedes Jahr deutlich, dass die Überschuldung vor allem bei jungen Erwachsenen steigt.

Und gleichzeitig explodiert die Welt der unqualifizierten „Finfluencer“ auf TikTok und anderswo – mit Halbwissen, unseriösen Schnellreich-Versprechen und teils brandgefährlichen Finanzratschlägen. Die Schlagzeilen über hohe Verluste von Finfluencer-Jüngern kennen wir doch alle.

Wie lässt sich das Problem aus Ihrer Sicht lösen? Wer ist in der Verantwortung?

Wirth: Die Politik. Punkt. Seit Jahren sprechen wir darüber, dass Finanzbildung gestärkt werden muss – und was passiert? Das Ergebnis der Finanzbildungsstrategie von Finanz- und Bildungsministerium in der vergangenen Legislatur ist ein nettes Online-Spiel und eine halbfertige Webseite. Was wir brauchen, ist ein klarer gesetzlicher Rahmen, kein Stückwerk. Wir brauchen:

  1. Ein verpflichtendes Schulfach „Wirtschaft und Finanzen“, von der Grundschule bis zum Abitur. Nicht als loses Modul, sondern als fester Bestandteil des Lehrplans.
  2. Eine Reform der Lehrerausbildung, damit angehende Lehrkräfte selbst Finanzkompetenz erwerben.
  3. Lebenslange Finanzbildung, mit gezielten Angeboten für Erwachsene – insbesondere für Menschen mit geringem Einkommen oder Migrationshintergrund.
  4. Kooperation mit der Praxis, damit echte Finanzexperten unter klaren Regeln ihr Wissen in die Schulen bringen können.

Es gibt gute Ansätze, aber sie brauchen mehr Unterstützung. Ein Beispiel: Wissenschaft, Verbraucherschützer und Vertreter der Finanzbranche – darunter auch die Vermittlerverbände AfW und BVK – beraten gerade unter dem Dach des DIN Deutsches Institut für Normung e.V. darüber, wie eine DIN-Norm für Finanzbildung ausgestaltet sein könnte. Ziel ist es, endlich neutrale, qualitativ hochwertige Leitplanken zu setzen, um dem föderalen Bildungschaos eine Struktur zu geben. Als Mitglied des Beirats des Normenausschusses „Finanzen“ habe ich sehr gern dafür gestimmt, dass eine solche DIN-Norm in Angriff genommen wird. Auch die sehr engagierte Stiftung Finanzbildung sei hier erwähnt. Das zeigt: Lösungen sind möglich. Aber die Politik muss den Mut haben, sie aktiv zu unterstützen und endlich umzusetzen.

Sie fordern, dass Finanzbildung ein Pflichtfach an deutschen Schulen werden muss. Aber machen wir es uns als Gesellschaft nicht zu einfach, wenn wir die Verantwortung für Themen wie Finanzbildung – oder auch Medienkompetenz – immer in Richtung der Schulen abschieben?

Wirth: Nein, im Gegenteil. Wo sonst, wenn nicht in der Schule? Die Schule ist der einzige Ort, an dem alle jungen Menschen unabhängig von ihrem Elternhaus erreicht werden. Wer das Thema dort nicht verankern will, lässt es im Grunde im Chaos versinken. Ich habe selbst drei Kinder. Ich habe gesehen, was ihnen zu diesem Thema in der Schule vermittelt wurde und wird. Nichts. Also gehe ich noch weiter: Warum wird Finanzbildung nicht Teil der Lehrerausbildung? Wenn angehende Lehrkräfte von Anfang an das nötige Wissen hätten, könnten sie gemeinsam mit Praxisexperten unterrichten. Warum also nicht Lehramtsstudierende mit wirtschaftlichen Grundlagen in Kontakt bringen – vielleicht mit gezielten Vorlesungen zur Versicherungswirtschaft, Finanzplanung und Altersvorsorge? Wer die Schule aus der Verantwortung nehmen will, sollte sich ehrlich fragen: Welche Alternative gibt es? Eltern? Die Realität zeigt, dass Finanzwissen dort oft fehlt. Selbststudium? Dann sind wir wieder bei dubiosen Finfluencern auf TikTok oder seltsamen Ratschlägen von Hermann-Josef Tenhagen oder Ron Perduss in „SternTV“.


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Laut AfW-Vermittlerbarometer wären rund 70 Prozent der Vermittlerinnen und Vermittler dazu bereit, das Schulfach „Finanzbildung“ zu unterrichten – gelegentlich und ehrenamtlich. Können Sie die Befürchtung nachvollziehen, dass damit dem Finanzlobbyismus in den Schulen Tür und Tor geöffnet wird?

Wirth: Niemand will, dass Schulen zu Verkaufsveranstaltungen werden. Aber das eigentliche Problem ist doch: Wo sind die qualifizierten Lehrerinnen und Lehrer für dieses Fach? Die meisten Lehrkräfte haben keine Finanzexpertise. Also was ist die Alternative? Weiter Nichtstun? Deshalb braucht es klare Regeln:
keine Werbung, keine Produktverkaufsveranstaltungen; transparente, strukturierte und verständliche Inhalte, vielleicht ja angelehnt an einer DIN-Norm; qualifizierte Lehrkräfte als überwachende Instanz. Andere Branchen machen das längst: IT-Experten helfen beim Thema Medienkompetenz. Ärzte sprechen an Schulen über Gesundheit. Handwerkskammern informieren über Berufschancen. Warum sollte Finanzbildung eine Ausnahme sein? Das eigentliche Problem ist doch nicht eine potenzielle Einflussnahme – sondern das Fehlen jeglicher qualifizierten Bildung.

Sie haben selbst schon an Schulen zum Thema Finanzen unterrichtet. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?

Wirth: Durchweg positive. Die Schülerinnen und Schüler sind unglaublich neugierig – weil sie genau wissen, dass ihnen dieses Wissen fehlt. Ich habe Fragen bekommen wie: „Wie funktioniert eine Rente?“, „Meine Eltern haben einen Kredit. Ist das schlimm?“, „Was ist eine Aktie – und kann ich damit reich werden?“. Und – by the way – es war nicht nur für die Schüler ein Gewinn, sondern auch für mich persönlich. Ich beneide Lehrer, die es sich bewahrt haben, diesen Moment zu genießen, wenn die Kinder und Jugendlichen sie neugierig ansehen und der Erkenntnismoment da ist und die Kids verstehen: „Hey, das betrifft ja mich auch!“ Diese Energie, dieser Aha-Moment – das ist unbezahlbar. Genau deshalb brauchen wir Finanzbildung in den Schulen. Weil Wissen nicht nur schützt, sondern auch empowern kann.

Noch-FDP-Chef Christian Lindner hat zu Jahresbeginn im Cash.-Interview betont, dass er als Bundesfinanzminister die sogenannte Finanzbildungsstrategie auf den Weg gebracht hat. Sie haben diese Strategie gerade schon angesprochen, warum hat sie nicht verfangen?

Wirth: Die Idee war gut – aber es wurde nur an der Oberfläche gekratzt. Ein Lernspiel für Kinder und eine Webseite reichen nicht. Schauen Sie mal drauf: www.mitgeldundverstand.de/fibi/DE/Home/home.html Wen soll das ansprechen? Solange es kein verpflichtendes Schulfach, keine verbindliche Strategie und keine klare Finanzierung gibt, bleibt das alles Stückwerk. Deutschland braucht endlich eine ernsthafte Finanzbildungsstrategie. Finanzbildung ist keine Nebensache – sie ist eine Grundlage für soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Eigenverantwortung. Dass wir 2025 immer noch darüber diskutieren, ob Finanzbildung in die Schule gehört, während andere Länder längst handeln, ist ein Armutszeugnis. Die Politik muss endlich liefern. Aktuell werden -zig Milliarden verteilt. Ich habe zum Thema Finanzbildung bisher nichts vernommen in diesem Zusammenhang. Aber die gute Nachricht ist: Die Branche ist längst bereit. Unabhängige Vermittlerinnen und Vermittler, Banken und Versicherer, Investmentgesellschaften und andere Branchenprotagonisten sind alle willens, ihr Wissen beizutragen, damit junge Menschen bessere finanzielle Entscheidungen treffen können. Es liegt sicherlich nicht am Geld. Es braucht Initiative und Mut, das Wissen auch in den Schulalltag zu bringen – strukturiert, neutral und praxisnah. Es geht nicht um Interessenvertretung oder Lobbyismus. Es geht um Verantwortung.

Die Fragen stellte Kim Brodtmann, Cash.

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