Die Mehrzahl der Schwellenländer verzeichnen aktuell ein robustes Wachstum und profitieren teilweise von einer Neuordnung der globalen Lieferketten. Beispielsweise wurden die Wachstumserwartungen für Indien und Brasilien vom Internationalen Währungsfonds zwischenzeitlich nach oben revidiert, auf 6,8 und 2,2 Prozent für das Jahr 2024. Gerade in Lateinamerika waren in den vergangenen Jahren jedoch auch politische Risiken ein wichtiges Thema: In den größten Volkswirtschaften wurden linksgerichtete Regierungen gewählt. Um die wirtschaftliche Lage und politischen Entwicklungen in Lateinamerika besser einordnen zu können, sammelten wir jüngst in Chile, Brasilien und Argentinien vor Ort Eindrücke bei insgesamt mehr als 50 Meetings, darunter mit Unternehmen aus verschiedenen Industriezweigen, Ökonomen, lokalen Investoren und Experten aus der Finanzindustrie.
Neben einem verbesserten politischen Umfeld in Chile steht auch die lokale Wirtschaft vor einer Erholung aus dem schwierigen Jahr 2023 mit einem Wirtschaftswachstum von nur 0,2 Prozent. Seit Jahresanfang beschleunigten sich die Konjunkturindikatoren, inklusive Produktions- und Arbeitsdaten, und die Erwartungen der Ökonomen für 2024 wurden auf über 2 Prozent Wirtschaftswachstum angehoben. Auch niedrigere Zinsen sollten diese Entwicklung unterstützen. So war Chile Vorreiter in der geldpolitischen Lockerung und die Zentralbank senkte den Leitzins seit letztem Sommer bereits um 4,75 Prozent. In diesem Umfeld erwarten lokal tätige Unternehmen eine graduelle Erholung des Konsums. Teilweise wurde diese Entwicklung von Einzelhandelsunternehmen mit höheren Umsätzen in den Segmenten für Warenhäuser oder Einkaufszentren bereits registriert, wenn auch noch auf tiefen Niveaus. In der Summe begegneten wir in Chile einer optimistischen Stimmung. Und auch wir betrachten die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen durchwegs positiv und denken, dass das Land seinen Status als ‚sicherer Hafen‘ für solide Investment-Grade-Anlagen in Lateinamerika weiterhin verdient.
Auch in Brasilien stehen die Ampeln unserer Ansicht nach auf grün. Trotz anfänglicher Unsicherheit entwickelte sich die Politik unter Präsident Lula da Silva für die Finanzmärkte durchaus positiv. Einerseits blieb die Fiskalpolitik bislang restriktiver als erwartet und die Regierung konnte sowohl eine lang überfällige Verbrauchsteuerreform als auch eine neue Fiskalregel durchsetzen. Auch wirtschaftlich entwickelt sich das Land besser als erwartet und insbesondere der Einzelhandel überraschte seit Jahresbeginn deutlich positiv mit einem Wachstum von 5,7 Prozent im Jahresvergleich. In diesem Umfeld wurde Brasilien kürzlich von zwei Ratingagenturen von BB- auf BB heraufgestuft und Experten rechnen mit weiteren Upgrades in den nächsten ein bis zwei Jahren, was unserer Meinung nach realistisch ist.
Mit dem Beginn des Zinssenkungszyklus ließ der Druck auf die Unternehmen inzwischen nach. Davon dürften vor allem Unternehmen profitieren, die einen höheren Anteil an lokalen Schulden mit variablen Zinssätzen haben. Angesichts des besseren Umfelds verzeichnete Brasilien im ersten Quartal auch die höchsten Neuemissionsvolumen in Lateinamerika. Zudem trauten sich seit langem auch wieder Debutanten an den Markt, teilweise mit attraktiven Kupons von 9-10 Prozent. Politische Diskussionspunkte waren unter anderem die Einflussnahme der Regierung auf Unternehmen mit Staatsbeteiligung, die Einhaltung der Fiskalregel sowie der Fortschritt bei der anstehenden Einkommenssteuerreform. Insgesamt denken wir, dass sich diese Risiken aktuell in Grenzen halten und die positiven Treiber in Bezug auf das Wirtschaftswachstum und auf den Rohstoffausblick überwiegen. Entsprechend betrachten wir Brasilien aktuell als attraktiven Anlagemarkt für Corporates und bevorzugen aktuell Exportunternehmen.
In Argentinien schwächte sich die Wirtschaft seit Jahresanfang signifikant ab: Für das Gesamtjahr wird mit einer Kontraktion von 3-4 Prozent gerechnet. Die weitere Unterstützung der Regierung in der Bevölkerung und damit die politische Durchsetzungsfähigkeit bleibt wichtigster Erfolgs-, aber auch größter Risikofaktor. Positive Performancetreiber für die kommenden Monate sind die Ankündigung eines neuen Programms mit dem Internationalen Währungsfonds, Durchsetzung des Omnibus-Gesetzes oder Fiskalpakts im Senat, die weitere Akkumulierung von Währungsreserven sowie mögliche Schritte im Währungsmanagement inklusive graduelle Aufhebung der Kapitalkontrollen. Fortschritte in diese Richtung schätzen wir als realistisch ein.
Insgesamt steht im Moment jedoch viel auf dem Spiel. Im positiven Fall, mit weiteren politischen Erfolgen und damit der graduellen Wiederöffnung des Landes für den Kapitalmarkt sehen wir auch bei den aktuellen Bewertungen noch Luft nach oben. Auf der anderen Seite sind die Risiken, allen voran die Geduldsprobe, die der Bevölkerung abverlangt wird, signifikant. Im schlimmsten Fall verliert Präsident Milei seine Unterstützung in der Bevölkerung und kann entsprechend Reformen nicht mehr durchsetzen. In der Summe betrachten wir die aktuellen Bewertungen aufgrund der hohen Unsicherheit, in welche Richtung sich das Land entwickeln wird, damit als ausbalanciert.
Zusammenfassend kommen wir zu dem Schluss, dass sich der Ausblick auf Lateinamerika im Hinblick auf die wirtschaftliche Lage, zusammen mit einer robusten lokalen Nachfrage, tieferen Zinsen und vorteilhaften Entwicklungen bei den Rohstoffpreisen, in den vergangenen Monaten stark verbessert hat. Gleichzeitig dürfte in Zukunft die politische Situation ruhiger bleiben und in den wichtigsten Märkten werden mittelfristig auch keine Wahlen mit größeren Veränderungen in der politischen Landschaft erwartet. Entsprechend sind wir für den Corporates-Markt in der Region optimistisch.