„Grenzen werden noch fließender“

Professor Dr. Jochen Ruß vom Institut für Finanz- und Aktuarwissenschaften (ifa) in Ulm stimmt nicht in den Abgesang auf die klassische Lebensversicherung ein.

Jochen Ruß, ifa
Prof. Dr. Jochen Ruß, ifa: „Jede Lösung kann für gewisse Kunden eine gute Wahl sein.“

Cash.: Im Neugeschäft der Versicherer dominierte im ersten Halbjahr 2012 die klassische Lebensversicherung mit einem Marktanteil von 76 Prozent, während die Fondspolice nur 24 Prozent erreichte. Welche mittelfristigen Verschiebungen erwarten Sie?

Ruß: Es geht doch darum, dass man für unterschiedliche Kunden mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Risikopräferenzen auch unterschiedliche Produkte braucht. Daher wird es immer eine Vielfalt von sehr sicheren Produkten bis hin zu Produkten mit weniger Garantien und dafür mehr Chancenpotenzial geben.

Es gibt heute schon zahlreiche Mischformen, wie beispielsweise Hybridprodukte und Produkte, die in der Kundenwahrnehmung eher fondsgebunden beziehungsweise aktienindexgebunden sind, technisch aber vorwiegend als „Klassik“ gelten. Umgekehrt gibt es auch klassische Produkte mit verstärkt endfälligen Garantien, die gewisse Elemente von Fondspolicen haben. Die Grenzen werden in Zukunft vermutlich noch fließender werden.

Der Versicherer Zurich hat den Eigenvertrieb der hauseigenen „Klassik“ zu Jahresbeginn eingestellt. Wird die Entscheidung eine Signalwirkung für die gesamte Branche haben?

Ich bin der festen Überzeugung, dass der sogenannte „Risikoausgleich im Kollektiv und in der Zeit“ für die Kunden zu einer Stabilität der Erträge führt, die man bei vergleichbarer Rendite nirgendwo anders findet. Diese Möglichkeit hat man aber nur bei klassischen Versicherungen. Das kann kein Bank- oder Fondsprodukt in vergleichbarer Weise leisten. Das Verhältnis von Rendite zu Risiko war bei klassischen Produkten in der Vergangenheit aus Kundensicht daher einzigartig.

Umgekehrt sind die in bisherigen klassischen Produkten beinhalteten Garantien für den Kunden sehr hochwertig und daher für den Versicherer bei niedrigen und volatilen Zinsen riskant und somit teuer. Deshalb arbeiten viele Versicherer und auch wir – auch ohne ein zusätzliches Signal – hart daran, zukunftsfähige klassische Produkte zu bauen.

Über das Thema „Garantien“ in Lebensversicherungen wird seit geraumer Zeit diskutiert. Welche Trends beobachten Sie?

Wir sehen im Wesentlichen drei Trends: Erstens: Neue klassische Produkte, die den Risikoausgleich im Kollektiv und in der Zeit nutzen, für den Versicherer aber das Risiko beschränken, indem man sich auf diejenigen Garantien beschränkt, die der Kunde auch wirklich braucht und wahrnimmt.

Zweitens: Eine Weiterentwicklung verschiedener fondsgebundener Garantiemodelle und drittens: Neue Produkte für die Rentenbezugsphase, denn auch in der Rentenphase gibt es Kunden mit unterschiedlichen Bedürfnissen. Daher brauchen wir auch hier mehr Produktvielfalt.

Wie sehen Sie die mittelfristigen Zukunftsaussichten der bestehenden Produkte?

Weder bei einer Bewertung von Produkten aus Kundensicht noch bei einer Risikoanalyse aus Versicherersicht darf man meiner Meinung nach in Produktkategorien denken. Dem konkreten Produktdesign kommt eine immer größere Bedeutung zu. Daher wehre ich mich gegen Aussagen wie „die klassische Versicherung ist für die Versicherer zu riskant“ oder „Garantiemodell XYZ ist für den Kunden zu teuer“.

Ganz im Gegenteil: Jede Lösung kann bei geeigneter Ausgestaltung für gewisse Kunden eine gute Wahl sein und für den Versicherer mit einem beherrschbaren Risiko einhergehen.

Interview: Lorenz Klein

Foto: Frank Seifert

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