„In zwölf bis 15 Monaten ist die Krise ausgestanden – auch wenn wir durch die jüngst abgeschlossenen, langfristigen Lieferverträge absehbar nicht mehr zu den alten Preisen zurückfinden werden. Wir rechnen dann mit einem Gaspreis von etwa 40 Euro je Kubikmeter, was etwa dem Vierfachen des Vorkrisenniveaus entspricht. Der Höhepunkt der Energiepreise und damit des Inflationsanstieges wird jedoch gerade erreicht, wenn es keinen sehr kalten Winter gibt.“
Dabei sähen die wirtschaftlichen Aussichten global sehr unterschiedlich aus. Deutschland stehe vor einer Deindustrialisierung der energieintensiven Branchen und damit einem Strukturwandel, der allerdings vom jüngst beschlossenen, 200 Mrd. Euro schweren Hilfsprogramm der Regierung stark abgefedert wird. Für andere Regionen ist seine Prognose dagegen bedeutend positiver. So würden viele deutsche Industrieunternehmen ihre Produktionskapazitäten und neue Investitionen in die USA, nach Spanien oder in die Benelux- sowie skandinavischen Staaten verlagern, da diese kurz- und langfristig deutlich niedrigere Energiekosten bieten könnten. In den USA erwartet der Experte schon bald sinkende Inflationsraten: „Es gibt gute Gründe, dort von einer Stabilisierung in den nächsten Monaten auszugehen, da die Energie- und Nahrungsmittelpreise nach dem starken Anstieg im Frühjahr und Sommer wieder zurückfallen“, berichtet Wolfgang Sawazki. Zudem profitiere die USA von der derzeitigen Situation: „Europa kauft zu hohen Preisen und mit langfristigen Verträgen dort Gas sowie Rüstungsgüter ein, was die Kosten des Krieges auffängt.“ Daneben könne sich China sukzessive von der Corona-Krise erholen, wenn die Zero-Covid-Policy nach dem Parteitag gelockert wird.
Europa vor wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen – Höhepunkt der Krise nun jedoch erreicht
Was auf der anderen Seite des Atlantiks Perspektiven schafft, belastet mittel- und langfristig Europa und insbesondere Deutschland. „In einer Phase der Dekarbonisierung können potenzielle Gaslieferanten nur mit hohen Preisen und langfristigen Verträgen überzeugt werden, Infrastruktur aufzubauen“, so der Experte. „Andererseits ist es jedoch überlebenswichtig, die Fehler der letzten Jahre (Fokussierung auf russische Gaslieferungen, Verkauf der deutschen Gasspeicher an Russland, zeitgleicher Rückzug aus der Atom- und Kohleverstromung) zu korrigieren und die Energie- sowie auch die Rohstoffversorgung über mehrere Anbieter breit zu diversifizieren.“
Nicht nur in der Energieversorgung, auch außen- und verteidigungspolitisch hat sich Europa, mit zu starkem Vertrauen in die „Friedensdividende“, zu einseitig aufgestellt. Dr. Stefan Meister, Programmleiter Internationale Ordnung und Demokratie bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), geht noch einen Schritt weiter: „Europa hat die geopolitischen Verschiebungen der letzten zehn Jahre verschlafen und denkt nicht strategisch.“
Ukraine: Waffenstillstand immer unwahrscheinlicher, Krieg wird sich mindestens bis zum Frühjahr 2023 hinziehen
Eine kurzfristige Lösung für den Ukraine-Krieg sieht der Osteuropa-Experte nicht. Nach den jüngsten Erfolgen der ukrainischen Gegenoffensive erwartet er über den Winter ein Einfrieren des Krieges, bevor Russland mit neuen Ressourcen eine neue Angriffswelle beginnen wird. Putin hat mit der Teilmobilisierung jetzt ganz auf Krieg gesetzt. Im Gespräch mit Wolfgang Sawazki wird Stefan Meister deutlich: „Die politische Kultur im Kreml ist nicht auf Verhandlungen ausgelegt und kennt nur Gewinner und Verlierer.“ Putin werde weder in Phasen von Verlusten noch als Gewinner in Verhandlungen eintreten. „Es gibt lediglich einen schmalen Raum des Patts, in dem ein Spielraum für den Beginn von Waffenstillstandsverhandlungen bestünde.“
Selbst einen Einsatz von taktischen Nuklearwaffen hält Stefan Meister nicht für ausgeschlossen. „Allerdings stehen dem drei Dinge entgegen: Erstens würde ein radioaktiver Fallout mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Russland selbst treffen. Zweitens überschreitet Putin damit eine Grenze, die auch China und Indien ziehen, und isoliert sich damit geopolitisch noch mehr. Drittens würde die westliche Welt wahrscheinlich im Gegenzug die Ukraine weiter massiv mit modernen konventionellen Waffen aufrüsten und somit im Kampf gegen Russland unterstützen.“
Neuordnung der europäischen Ordnung zu erwarten
Dr. Wolfgang Sawazki geht davon aus, dass Russland durch den Krieg auch langfristig wirtschaftlich enorm geschwächt wird: „Russland hängt stark von westlicher Technologie ab und hat sich mit seinem Angriffskrieg selbst davon ausgeschlossen.“ Dr. Stefan Meister geht noch einen Schritt weiter: „Russland wird technologisch, strukturell und vom Humankapital her abgehängt. Es wird in einer neuen Weltordnung wahrscheinlich in die zweite Reihe rutschen, zumal sich China und die eurasischen Staaten zunehmend von Russland distanzieren.“