Haben politische Börsen immer nur kurze Beine?

Entscheidend ist jetzt aber, was die EU macht, die auf den Grundsätzen der humanistischen Aufklärung fußt. Europa darf bei den Freiheitsrechten nicht kuschen, nur um den Flüchtlings-Deal mit der Türkei nicht zu gefährden. Die EU muss ihre Prinzipien des Rechtsstaates verteidigen wie eine Löwin ihre Jungen, auch die mächtigste Frau der Welt. Bei der Zusammenarbeit mit Ländern können in Fragen von Menschenrechten Fünfe niemals grade sein. Sie sind unverhandelbar, unkaputtbar. Hier haben alle EU-Politiker gefälligst laut den Mund aufzumachen. Dagegen müssen die Fischer-Chöre ein heiserer Amateurgesangsverein sein.

Wenn irgendjemand in der Türkei meint, zur Erlangung von Visa-Erleichterungen damit zu drohen, man könne den Zuzug von Flüchtlingen in die EU dosieren wie die aus dem Hahn strömende Wassermenge, muss man ihm klar zeigen, wo die roten Linien sind. Auf einen groben Klotz gehört eben auch ein grober Keil. Anzudrohen, dass die Türkei bei möglicher Wiedereinführung der Todesstrafe kein EU-Mitgliedsland werden kann, läuft dabei übrigens ins Leere. Denn an einem Beitritt besteht hüben wie drüben kein Interesse mehr. Dieser Zug ist politisch längst abgefahren.

Die EU hat jetzt eine riesige politische Chance

Die EU könnte jetzt diese verfahrene außenpolitische Situation nutzen, um innenpolitisch zu Lösungen zu kommen. Ich bin nicht naiv und weiß, dass das nicht einfach ist. Aber wenn nicht jetzt, wann bitte dann will die EU aus ihrer eurosklerotischen Lethargie entkommen? Will sie das Schicksal des Römischen Reiches erleiden, das wegen spätrömischer Dekadenz schließlich eingegangen ist wie eine vertrocknete Primel?

Die EU hat es doch gar nicht nötig, zu duckmäusern. Aus dem Erpressungsversuch kann sich der größte Wirtschaftsraum der Welt durchaus befreien: Die EU-Außengrenze muss gemeinsam gesichert werden und zügig geklärt werden, welcher Flüchtling bleiben kann und wer nicht. Und dann geht es um die gerechte Verteilung, bei der die großen EU-Geldgeber ihren „monetären“ Einfluss als Argument durchaus geltend machen können. Sich am großen EU-Buffet laben und nichts zu seiner Zubereitung beitragen, geht nicht.

Schon kleine gemeinsame Erfolge würden so manchem im Südosten Europas die Augen öffnen, dass viele Machtpotenzialträume in Wirklichkeit eher Schäume sind. Man würde schnell merken, dass man es sich nicht mit allen verscherzen kann. Jeder braucht Freunde. Und Europa ist ein großer wirtschaftlicher Freund. Sollten die Handelsbeziehungen einbrechen und die Türkei in schwieriges Fahrwasser geraten, könnte auch die Zustimmung des Volkes zur politischen Leitfigur leiden.

Seite vier: Die EU darf es nicht wie die drei Affen machen

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