Die Versicherungswirtschaft wird sich in den kommenden Jahren ändern wie nie zuvor. Denn im Zentrum der Branche steht das Managen von Risiken, die in ihrem Wesen kontinuierlich vielfältiger und komplexer werden. Der Klimawandel erhöht die Frequenz und die Intensität von Naturkatastrophen. Durch den Einsatz neuer Technologien entstehen völlig neue Risikofaktoren wie Datenschutzverletzungen, Cyberangriffe und technische Fehlfunktionen. Covid-19 und der Ukraine-Krieg brachten eine Fülle an neuen Risiken, Unsicherheiten und regulatorischen Vorschriften mit sich, die teilweise noch immer nicht ganz aufgearbeitet sind.
Der demografische Wandel verschärft zusätzlich den ohnehin grassierenden Fachkräftemangel und steigert darüber hinaus das Risiko auf Versicherungsseite, denn mehr alte Menschen bedeuten leider auch mehr Schadensfälle. Dazu werden Kundenbedürfnisse schnelllebiger und immer individueller. In Anbetracht dieser immer volatileren Risikolandschaft wird eine langfristige Planung mit adäquatem Risikomanagement zunehmend anspruchsvoller.
Geschäftsmodelle hinterfragen
Dies zwingt Versicherungsunternehmen, ihre Geschäftsmodelle vorausschauend zu hinterfragen und kontinuierlich anzupassen. Im Moment wird die Anpassungsfähigkeit von weiten Teilen der deutschen Versicherungslandschaft allerdings noch von einer rückständigen Digitalisierung zurückgehalten. Woran liegt das, wo genau führt das zu Problemen und welche Führungskräfte können hier Abhilfe schaffen?
An dieser Stelle muss betont werden, dass neue Risiken für die Versicherungsbranche nicht zwangsläufig etwas Schlechtes sind.
Im Gegenteil: Sie steigern den Bedarf nach innovativen Absicherungen, hier liegt also jede Menge Geschäftspotential. Allerdings wird gleichzeitig das „Underwriting“, die Risikokalkulation, immer komplexer, da immer mehr Variablen ins Spiel kommen. Speziell bei internationalen Versicherungsprogrammen für globale Konzerne, die sowohl Bedürfnisse und Risikoprofil der Kunden und Kundinnen als auch regulatorische Auflagen von diversen regionalen Aufsichtsbehörden berücksichtigen müssen, wird eine intensive Nutzung von Big Data und digitalen Analysetools daher immer erfolgsentscheidender. Derzeit bleiben jedoch noch große Datenmengen ungenutzt, weil den betreffenden Versicherungsunternehmen die Infrastruktur für Analyse und Bewertung fehlt.
Großes Potenzial für KI
Gerade an diesem Punkt sehe ich großes Potenzial für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI). KI kann Muster und Zusammenhänge in einem beispiellosen Tempo identifizieren, mit modernen/aktuellen Algorithmen gelingt das teilweise schon in Echtzeit. Um sich konstant an volatile Marktbedingungen anzupassen, ist das von unschätzbarem Wert. In einem gewissen Rahmen findet KI hier bereits Anwendung, doch wir haben gerade erst angefangen zu verstehen, was diese neue Technologie noch alles ermöglichen wird.
In jedem Fall werden innovative Techniken bei der Zusammenstellung, Analyse und Verwertung von Daten zukünftig darüber entscheiden, wer die attraktivsten Absicherungslösungen anbieten kann. Die Lebensläufe der Versicherten sind mittlerweile deutlich flexibler und weniger geradlinig als noch vor 20 Jahren. Deutsche Versicherungsunternehmen müssen mit innovativen, flexiblen Angeboten der neuen Lebensrealität der Kundschaft entsprechen. Die aufkommende Konkurrenz von InsurTechs unterstreicht, dass eine Nachfrage nach alternativen digitalen Versicherungsmodellen besteht.
Das ist auch Amazon aufgefallen: Der Onlineversandhändler vermittelt bereits seit ein paar Jahren Haftpflichtversicherungen für Fahrer. Letztes Jahr startete der Tech-Riese zudem ein Versicherungsangebot in Großbritannien und wurde auch für Deutschland als Versicherungsmakler zugelassen. Wenn Amazon mit seiner weltmarktführenden Hightech-Kompetenz und unvorstellbaren Datenmengen im europäischen Versicherungsmarkt ankommt, wird vielen erst bewusst werden, wie weit sie in Sachen Digitalisierung international zurückliegen.
Dies wird besonders deutlich, wenn man einen Blick auf die Bedürfnisse der jüngeren Generationen wirft: Gerade einmal zehn Prozent (!) der 25- bis 44-Jährigen sind mit dem Digitalisierungsgrad ihrer Versicherung sehr zufrieden. Insofern darf Digitalisierung nicht als bloßer Kostenfaktor betrachtet werden, es ist ein überlebensnotwendiges Investment in die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens. Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit!
Die überfällige Digitalisierung der Kundeninteraktion wird in den meisten Fällen eine Modernisierung oder sogar (Neu-)Aufbau der zentralen Technologie-Plattformen und Kunden-Apps bedeuten. Das kann zwar teuer werden, doch dadurch positioniert man sich wesentlich attraktiver für junge Generationen. Zudem können schon kurz bis mittelfristig Personalkosten eingespart werden, vor allem in der Kundenbetreuung.
Auch der Aufbau von digitalen Analyse- und Bewertungswerkzeugen bringt hohe Kosten mit sich, allerdings erschließt dies einerseits völlig neue Geschäftsmodelle und andererseits profitiert auch das traditionelle Kerngeschäft von einer hochpräzisen digitalen Risikokalkulation. Die Konkurrenz der InsurTechs kann man am einfachsten dadurch entkräften, dass man Kooperationen mit ihnen anstrebt.
Digitale Expertise fehlt in der Führungsetage allzu häufig
All dies erfordert eine entsprechende digitale Expertise innerhalb der Führungsetage, die dem Management jedoch noch allzu häufig fehlt. Hinzu kommt oft ein Defizit bei Change-Management-Prozessen, denn die neuen Herausforderungen für die Versicherungsunternehmen erfordern oft einen grundsätzlichen Wandel an vielen Stellen innerhalb der Organisationen.
Und das, obwohl Kompetenzen im agilen Change-Management eigentlich längst für jede Führungskraft unerlässlich sein müssten. Um effektiv auf die kontinuierlichen Veränderungen der Risikolandschaft reagieren zu können, ist es entscheidend, flexibel zu bleiben und sich stetig anzupassen.
Aufgrund des digitalen Nachholbedarfs der Branche muss man als Headhunter bei der Auswahl und Besetzung einer neuen Führungskraft für ein Versicherungsunternehmen hierauf – je nach Situation – ein besonderes Augenmerk legen. Auch die modernste digitale Infrastruktur nützt nichts, wenn sie nicht effektiv vermittelt und etabliert werden kann.
Eine moderne Digitalisierung geht über die Etablierung von elektronischen Tools hinaus: Es geht darum, einen Kulturwandel im Unternehmen herbeizuführen, der die Belegschaft mitnimmt und umfassend in das neue digitalere Arbeitsumfeld einbindet.
Hier kann es zu Widerständen kommen, da die Versicherungsbranche vielerorts noch ein alteingesessenes, eher konservatives Geschäft ist. Eine effektive Überwindung dieser Widerstände setzt diverse Fähigkeiten voraus: Eine klare Kommunikation vom Sinn und Zweck der Transformation, Empathie und Geduld für überforderte Teile der Belegschaft, ein motivierendes Fördern von Diskurs, Transparenz und Engagement und nicht zuletzt natürlich analytisches Geschick, um sowohl digitale Geschäftspotenziale als auch Transformationshürden und -fortschritte zu identifizieren.
Auf der Suche nach agilen Führungskräften
Nach solchen agilen Führungskräften mit Kommunikations-, Digitalisierungs- und kulturellen Change-Kompetenzen wird derzeit händeringend und branchenübergreifend gesucht, da immer mehr Unternehmen die zwingende Notwendigkeit einer digitalen Transformation erkennen. Gerade die Assekuranz hat einen ungeheuren Bedarf an dieser Art Manager. Aber wie kann die Branche diese begehrten Köpfe von sich überzeugen?
Digital versierte Führungskräfte zieht man vor allem dadurch an, indem man eine auf Digitalkompetenz beruhende Zukunftsvision transportiert. Sollte diese noch fehlen, so lassen sich manche Führungspersönlichkeiten auch damit locken, eine digitale Infrastruktur zu konzipieren und mit aufzubauen. Gerade die „Digital Natives“ der nachrückenden Generationen Y und Z haben allen Umfragen zufolge ein deutlich verstärktes Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, Mitbestimmung und Flexibilität. Dieses Bedürfnis nach Flexibilität wird auch an den weniger gradlinigen Lebensläufen deutlich, was sich sogar mittlerweile auch auf der obersten Führungsebene durch deutlich mehr Quereinsteiger manifestiert.
Doch im Versicherungswesen sind diese eher selten in der C-Suite zu finden, da häufig einige Jahre Branchenerfahrung vorausgesetzt werden. Dadurch verfestigen sich branchenintern gewisse kulturelle Aspekte, auch im Hinblick auf Führung. Das Gleiche gilt für einen Mangel an Frauen in Führungspositionen. Wenn sich also Versicherungsunternehmen beim Recruiting-Prozess ein klein wenig von alten Mustern loslösen würden, könnten sie viel dazugewinnen. Mit positiven Auswirkungen auf ihre eigene Belegschaft, ihre Kultur, die Kundenzufriedenheit und schlussendlich auch die Wettbewerbsfähigkeit.
Der Autor Kaan Buldau ist Gründer und Geschäftsführer von Buldau Partners Executive Consultants GmbH und betreut Konzerne bei der Beurteilung von Führungskräften.