Virologe Hendrik Streeck im Exklusiv-Interview: „Mit einer Prise Achtsamkeit kommen wir gut durch Herbst und Winter“

Foto: Christoph Mittermüller
Hendrik Streeck

Auf der Hauptstadtmesse der Fonds Finanz sprach Cash. mit dem Virologen Professor Dr. Hendrik Streeck über die neuen Corona-Schutzvorgaben, eine berufsspezifische Isolationspflicht und die Notwendigkeit einer vierten Impfung.

Herr Professor Streeck, zur Begrüßung haben wir uns gerade wie in Vor-Corona-Zeiten die Hand gegeben. Ist das wieder bedenkenlos möglich?

Streeck: Beim Coronavirus sind die Hände nicht der Hauptübertragungsweg, deshalb kann man auch ganz normal die Hände schütteln. Für mich persönlich gehört das Händeschütteln auch zu unserem Kulturgut dazu. Man muss sich nur vor Augen führen, dass man dabei sehr viele verschiedene Erreger austauscht – nicht nur Corona. Deshalb sollte man sich die Hände waschen, bevor man isst oder sich die Augen reibt. Aber das hat man ja als Kind schon gelernt, das sind keine neuen Regeln.

Mit den neuen Corona-Schutzvorgaben wurden viele Verantwortlichkeiten auf die Bundesländer übertragen. Sie haben gewarnt, nun drohe ein „Überbietungswettbewerb“ zwischen den Ländern. Welche Folgen könnte das haben?

Streeck: Zunächst mal finde ich es richtig, dass man sich dahingehend vorbereitet, auch kurzfristig Entscheidungen treffen zu können, ohne dass große Debatten entstehen und den Ländern hierfür Werkzeuge an die Hand gibt. Was fehlt ist eine Richtschnur oder eine Vorgabe, wann man überhaupt zu bestimmten Maßnahmen greifen sollte. Es darf nicht passieren, dass aus reiner Sorge – ohne dass eine konkrete Gefahrenlage vorliegt – irgendwelche Maßnahmen beschlossen werden. Im Moment sind wir nicht in einer konkreten Gefahrenlage, so dass ich es auch nicht notwendig finde, außerhalb von Risikoeinrichtungen Maßnahmen zu ergreifen.

Nichts ist in den vergangenen Wochen so kontrovers diskutiert worden wie die Regelung, dass in Flugzeugen keine Masken mehr getragen werden müssen, in Zügen aber schon. Ist diese Unterscheidung in irgendeiner Art und Weise vertretbar?

Streeck: Nein, eigentlich nicht. Diese Unterscheidung wird ja mit den unterschiedlichen Luftfiltern begründet, die in Flugzeugen und Zügen eingebaut sind. Dann müsste man konsequenterweise aber auch noch einmal zwischen Regional- und Fernzügen unterscheiden, da sind ja auch unterschiedliche Filter eingebaut. Ich glaube aber, man muss das Thema übergeordnet betrachten. Wir haben bisher nicht nachweisen können, dass Reisen im Flugzeug oder in der Bahn zu Superspreading-Events geworden sind. Es gibt zwar durchaus auch Übertragungen in den Fliegern. Aber im Großen und Ganzen ist es nicht das, worauf wir uns fokussieren müssen. Wir sind nicht mehr in der Phase, in der wir versuchen müssen, jede einzelne Infektion zu verhindern, sondern wir müssen massenhafte Infektionen und schwere Verläufe bei vulnerablen Gruppen verhindern. Da bringt die Maskenpflicht in Fliegern und Zügen nichts.

Angelika Slavik, Parlamentskorrespondentin der „Süddeutschen Zeitung“, hat in einem Kommentar geschrieben: „Es gibt viele Argumente, Masken- ebenso wie Impfverweigerung dumm zu finden. Aber für diese Dummheit muss in der Gesellschaft nun wieder Platz sein.“ Sehen Sie das auch so?

Streeck: Ich würde unterschreiben, dass es wichtig ist, das Tragen einer Maske wieder in die eigene Verantwortung der Menschen zu geben, denn wir wissen ja, dass eine Maske nur wirkt, wenn der Träger sie auch wirklich tragen will. Ansonsten wird sie schlecht getragen und dann verliert sie ihre Wirkung. Ich würde das Nichttragen einer Maske aber nicht als dumm bezeichnen, da widerspreche ich. Genauso sehe ich manchmal Situationen, in denen Masken getragen werden, die ich wiederum als dumm bezeichnen würde.

Welche zum Beispiel?

Streeck: Draußen im Wald beim Spazierengehen, allein im Auto oder beim Fahrradfahren. Das sieht man ja immer wieder.

Was ist mit Messeveranstaltungen wie heute hier in Berlin?

Streeck: Ich finde es vollkommen richtig, dass Veranstaltungen wieder stattfinden. Menschen mit einem erhöhten Risiko sollten sich aber von solchen Veranstaltungen wie dem Oktoberfest noch fernhalten, weil es im Moment noch höhere Übertragungsrisiken gibt. Das gilt auch für Menschen, die Sorge haben, sich zu infizieren und damit ihr Umfeld. Diese Unterscheidung können wir machen, das ist in meinen Augen ein tragbares Risiko. Mit einer Prise Achtsamkeit auf sich und andere kommen wir gut durch Herbst und Winter.

Zuletzt wurde die Frage diskutiert, ob man die Isolationspflicht im Fall einer Corona-Infektion berufsspezifisch anpassen sollte. So könnten zum Beispiel Menschen, die im Freien arbeiten und kaum engen Kontakt zu anderen Menschen haben, auch mit einem positiven Test arbeiten, wenn sie sich gesund fühlen. Was halten Sie davon?

Streeck: Fakt ist, dass wir nur noch einen Bruchteil der Infektionen überhaupt aufdecken. In der Spitzenphase im Sommer konnten wir mit einer bis zu zehnfach höheren Dunkelziffer rechnen. Es werden ja nur die Fälle aufgedeckt, in denen ein zertifizierter Antigen-Schnelltest oder ein PCR-Test gemacht wurde. Die Isolation ist im Grunde ein zahnloser Tiger geworden. Diejenigen Menschen, die positiv getestet wurden, sind häufig dann nicht mehr infektiös, da der CT-Wert bereits sehr hoch ist – müssen aber in Isolation gehen. Ich würde von einer Isolationspflicht Abstand nehmen und stattdessen auf ein Isolationsgebot setzen. Die Menschen sollten sich isolieren, sobald sie sich krank fühlen. Man sollte eine gute Kommunikationsstrategie fahren, um das den Menschen wirklich noch einmal einzubläuen – auch in den Betrieben.

In Deutschland wurden laut Robert-Koch-Institut insgesamt rund 32,6 Millionen Covid-19-Fälle diagnostiziert, die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Müssten wir nicht mittlerweile die Herdenimmunität erreicht haben?

Streeck: In Deutschland haben wir eine Immunität, die über 95 Prozent liegt. Aber das ist keine Herdenimmunität in dem Sinne, dass sich die Übertragung unter den Menschen verlangsamt oder keine Übertragung mehr stattfindet. Es lässt uns aber für den Herbst und Winter ein bisschen entspannter sein, da es weniger schwere Verläufe geben wird.

Sind wir noch in einer Pandemie oder mittlerweile in einer Endemie?

Streeck: Das ist eine schwer zu beantwortende Frage. Die Endemie ist ja so definiert, dass die Krankheitslast dauerhaft gleich bleibt. Nach dieser Definition wären wir noch nicht in der Endemie. Es ist ganz schwer, in dieser Übergangsphase genau zu sagen: Jetzt haben wir die Endemie erreicht. Der Beginn der Pandemie ist ziemlich leicht zu definieren, das Ende der Pandemie ist hart zu definieren. Wir merken ja gerade, wie schwierig es auch gesellschaftlich ist, diese Übergangsphase zu gestalten: Es gehört hier auch ein Stück weit Mut dazu. Ein Restrisiko wird es immer geben.

Wird das Virus bleiben? Und könnte die vermeintlich harmlose Omikron-Variante wieder zu einer deutlich gefährlicheren mutieren?

Streeck: Das Virus mutiert immer weiter, welche Varianten sich dabei durchsetzen werden, kann man nicht sagen. Das Virus will seine Übertragbarkeit verbessern und dem Immunsystem entkommen, bis es ein Optimum gefunden hat. Es ist ihm „völlig egal“, ob es dabei krankmachender ist oder nicht. Es kann also durchaus passieren, dass es wieder krankmachender wird, das ist aber relativ unwahrscheinlich. Es wird kein Killer-Virus werden. Aber grundsätzlich wird uns das Virus jeden Herbst und Winter weiter begleiten.

In Deutschland macht sich mittlerweile eine gewisse Impfmüdigkeit breit, das zeigt das Impfdashboard. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Streeck: Es ist ja die Frage, wer sich überhaupt noch impfen lassen muss. Wenn wir überlegen, dass rund 95 Prozent der Deutschen eine Immunität aufgebaut haben, ist das schon ein guter Schutz vor einem schweren Verlauf. Zu einer dritten oder vierten Impfung würde ich den Über-60-Jährigen und Risikogruppen raten. Da muss eine gezielte Impfkampagne ansetzen. Ich persönlich werde mir keine vierte Impfung geben lassen. Es gibt keine Daten, die zeigen, dass ein zusätzlicher Booster bei einem jungen, fitten Menschen überhaupt notwendig ist.

In Dänemark sind sämtliche Coronabeschränkungen gefallen. Ist unser nördlicher Nachbar Vorbild im Umgang mit dem Virus?

Streeck: Jedes Land hat ja mal gute und mal schlechte Entscheidungen in der Pandemiebekämpfung getroffen. Ich finde positiv, dass wir in Deutschland eine relativ gute Vorbereitung auf den Herbst und Winter haben. Einiges wird aber überzogen. Wir sind zweieinhalb Jahre sehr gut durch die Pandemie gekommen. Die Bürger wissen mittlerweile, wie man damit umgeht und wo man achtsam sein muss. Und wir haben gerade weiß Gott andere Probleme: Die Menschen haben Angst, dass sie ihren Kühlschrank nicht mehr füllen können oder in einem kalten Zuhause sitzen müssen. Da sollte Corona nicht ein zusätzliches Problem sein.

Das Gespräch führten Kim Brodtmann und Jörg Droste, beide Cash.

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