Berge von Butterbrezeln, leidenschaftliche Debatten, unbequeme Aktionäre neben abgeklärten institutionellen Investoren, das Ringen um die Besetzung und Entlastung des Aufsichtsrats und die Vergütung des Vorstands: Jahreshauptversammlungen (HVs) der großen Aktiengesellschaften hatten in den vergangenen Jahren stets einiges zu bieten. Doch dann wurde es schlagartig still um die Aktionärstreffen, denn mit der Ausbreitung der Corona-Pandemie endete auch die Ära der sogenannten Präsenz-HVs.
Mittlerweile gehen wir in die vierte von Corona geprägte HV-Saison, und auch wenn sich die pandemische Lage normalisiert hat: Nur etwa eines von vier großen Unternehmen hierzulande wagt sich an eine Präsenz-HV heran. Die übrigen Konzerne haben für sich die Vorteile der virtuellen HV erkannt und versuchen, daran festzuhalten. Das ist aktuell noch über die Notstandsgesetzgebung abgedeckt, aber nicht mehr lange. Daher wird bei den meisten der Aktionärstreffen in diesem Jahr auch über eine Satzungsänderung abgestimmt, die es den Konzernen ermöglichen soll, die Hauptversammlung auch weiterhin im virtuellen Raum stattfinden zu lassen. Nicht immer, aber oft geht das mit erheblichen Einschränkungen für die Eigentümer der Konzerne – und nichts anderes sind die Aktionäre – einher, etwa beim Rede- und Fragerecht.
Mit Blick auf die vorgesehenen Satzungsänderungen ist der Standpunkt von Union Investment klar: Die Änderungen sollten maximal zwei Jahre gültig sein, und vorzuziehen ist immer die Präsenz-HV, sollte sich das nicht durchsetzen, so sollte es zumindest ein hybrides Format sein. Das bedeutet: Zumindest der Vorstand und der Aufsichtsrat der Unternehmen sind vollständig zugegen und die Aktionäre haben ein weitgehendes Recht, während der Veranstaltung live Fragen zu stellen und an einer Art von Debatte teilzunehmen. Denn in der Vergangenheit war beides nicht immer gewährleistet: Im vergangenen Jahr etwa waren Live-Beiträge oft nicht möglich, kurze Stellungnahmen konnten nur im Vorfeld schriftlich oder per Video eingereicht werden. Das Gleiche galt mitunter für Fragen, die vorab eingereicht und während den Veranstaltungen beantwortet wurden. Mitunter waren auch nicht alle Aufsichtsrats- und Vorstandsmitglieder bei den HVs anwesend. Hier bedarf es klarer Richtlinien, die die HVs regeln und den Aktionären ihre Rechte sichern. Union Investment wird in diesem wie auch schon in den vergangenen Jahren aktiv an mehr als 2.000 Hauptversammlungen abstimmen und bei mehr als 15 mit eigenen Redebeiträgen zugegen sein, um für die Wahrung der Aktionärsrechte einzutreten, die Rahmenbedingungen im Sinne der Eigentümer zu gestalten und für die Führungsriegen die richtigen Leitplanken aufzustellen.
Doch nicht nur die geplanten Satzungsänderungen werden in den HVs eine prominente Rolle spielen. Viele Investoren werden bei den Treffen auch ein besonderes Augenmerk auf das Verhältnis der jeweiligen Unternehmen zur Volksrepublik China richten. Spätestens seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und der damit einhergehenden geopolitischen Machtverschiebung stellen sich neue Fragen. Auf das Zeitalter der Globalisierung folgt ein Großmachtwettbewerb um die weltweite Vormachtstellung zwischen den USA und China. In diesem Umfeld steigen die Sicherheitsbedürfnisse, viele Staaten sind bemüht, Abhängigkeiten zu China zu reduzieren. Damit einher gehen auch Herausforderungen für die Unternehmen. Der Globalisierungsschub der vergangenen 40 Jahre dürfte auslaufen. Es sollte zwar weiter grenzüberschreitenden Handel und globale Produktionsketten geben, aber Politiker ebenso wie Unternehmenslenker werden künftig die Möglichkeit internationaler Krisen und weiterer Pandemien verstärkt ins Kalkül ziehen. Unter Partnern sind strategische Abhängigkeiten in den Lieferketten und speziell bei Rohstoffen kein Problem – aber diese Zeiten sind vorbei.
Deshalb drängen andere Fragen in den Vordergrund, etwa: Wie widerstandsfähig sind die Lieferketten der großen Unternehmen? Wie diversifiziert ist ihre Energieversorgung? Welche Notfallpläne gibt es für den Fall von Engpässen? Klar ist: In diesem Prozess sind nicht alle Unternehmen gleich weit fortgeschritten. Die Hauptversammlung ist der richtige Ort, um zu eruieren, wie weit die Unternehmen diesbezüglich sind, was die nächsten Schritte sein werden und wie vorausschauend agiert wird. Eine HV, bei der den Aktionären ihre vollen Rechte zustehen, ist essenziell, um die wichtigen Fragen direkt vor Ort und unter medialer und öffentlicher Begleitung bei der Unternehmensspitze zu adressieren. Denn die Weichen in Richtung Zukunft werden heute gestellt.
Das gilt bei den oben genannten Punkten, aber natürlich auch bei der größten Herausforderung unserer Zeit: der globalen Erwärmung und der Bekämpfung ihrer Folgen. Wer jetzt nicht handelt, der könnte buchstäblich aus der Zeit fallen. Die Transformation der Wirtschaft, der Weg in eine unabhängigere Energieversorgung, zunehmender Verzicht auf fossile Rohstoffe und der Kampf gegen die Folgen des Klimawandels erfordern von den Unternehmen ein erhebliches Maß an Flexibilität, das auch in der Hauptversammlung eingefordert werden muss. Denn das ist der Ort, an dem über Vergütungspläne und damit über die Anreize für das Management diskutiert wird, das Unternehmen entsprechend zu führen. Und das nicht nur bei den ohnehin schon grünen Adressen und den Klassenbesten, sondern vor allem bei denen, die Aufholpotenzial haben, die noch nicht nachhaltig sind, es aber werden wollen. Aus einer ökologischen Perspektive schlummern dort die größten Potenziale, denn die globale Erwärmung grenzen wir nicht ein, indem wir die grünen Unternehmen optimieren, sondern indem wir die braunen Unternehmen auf ihrem Weg grün zu werden begleiten.
Um in diesen Fragen die Chancen und Potenziale auszuloten, ist die Hauptversammlung der ideale Ort. Klar, die meisten Informationen bekommt man auch über die Berichterstattung der Firmen und über die unterjährigen Dialoge mit dem Management, die über das Jahr verteilt stattfinden. Aber die Präsenz-HV oder zumindest die hybride HV als Forum bietet die Möglichkeit für vertiefte Einblicke, die sonst kaum zu gewinnen sind. Zudem können sich Aufsichtsrat und Vorstand in einer Halle voller Aktionäre und TV-Kameras kaum wegducken. Daher ist es Union Investment ein echtes Anliegen, die Aktionärsrechte zu wahren und die HV auch in der Zukunft als Ort der Mitbestimmung durch die Eigentümer zu erhalten. Die nun beginnende HV-Saison könnte für dieses Anliegen entscheidend sein.