Weniger Schadenfälle und günstige Konditionen aufgrund der Senkung der Umsatzsteuer haben sich während der Corona-Jahre insgesamt positiv auf die Erträge von Versicherern ausgewirkt. Nun drohen Inflation, Ukrainekrieg, Klima- und Energiekrise dem Höhenflug ein Ende zu bereiten und sorgen für Katerstimmung in der Branche.
Gleichzeitig erreicht die Anzahl der Schadenfälle das Vor-Corona-Niveau, während die Kosten für Reparaturen ansteigen. Auch neue Schadenkategorien – die sich beispielsweise aus der Versicherung von Elektrofahrzeugen oder Smart Home-Geräten ergeben – bergen Risiken und können sich als beachtliche Kostentreiber erweisen.
Abkehr von Silos und Nutzung externer Datenquellen
Da sich viele jahrelang konstante Rahmenbedingungen im Versicherungswesen derzeit rasant verändern, können alte Gewissheiten nicht mehr so einfach wie bisher auf aktuelle Entscheidungen angewandt werden. Nur wer aktuell gefütterte, intelligente und flexible Datenanalysesysteme hat, kann schnell und angemessen auf abrupte Marktveränderungen reagieren.
Dabei sollten Versicherer auch erwägen, ihren Datenbestand mithilfe externer Datenquellen aufzuwerten. Durch die Anreicherung erhalten sie einen größeren Marktüberblick, die Möglichkeit zum Benchmarking und können so wertvolle Potenziale zeitnah erkennen und nutzen.
Ein Viertel plant eine Überarbeitung der Datenaufbereitung
Laut einer Studie von Lünendonk planen 27 Prozent der Versicherer ihre Strategie zur Datenaufbereitung in naher Zukunft deutlich zu überarbeiten. 69 Prozent geben an, dass sie dafür aber zunächst interne Datensilos abbauen müssen. Damit kümmern sie sich um ein zentrales Thema: Denn es ist für eine erfolgreiche Datenstrategie entscheidend, dass Versicherer Daten in Absprache mit ihren Fachabteilungen sammeln und zentral ablegen. Nur so können sie Daten bereichsübergreifend nutzen und auswerten und die Wissens- und Erkenntnisbasis des Unternehmens insgesamt stärken.
Digitalisierung unterstützt operative Leistungsfähigkeit
Es reicht jedoch nicht aus, einzelne Daten kontextlos abzuspeichern, um schnellere und bessere Entscheidungen zu treffen. Vielmehr geht es darum, ganze Prozesse aufzuschlüsseln und sie zu automatisieren. Damit verändert sich auch die Sicht auf Digitalisierung und künstliche Intelligenz (KI): Sie werden von Versicherern längst nicht mehr nur als kostensenkende Hilfsmittel gesehen, sondern vielmehr als erfolgsrelevante Werkzeuge, die ihre operative Leistungsfähigkeit in der Zukunft unterstützen.
Als die Corona-Pandemie 2020 ausbrach und Sturmtief „Bernd“ im Sommer 2021 verheerende Schäden anrichtete, standen viele Versicherer zunächst vor großen Herausforderungen. Es galt, den Betrieb von ‚remote‘ aufrechtzuerhalten und gleichzeitig einen Berg an gemeldeten Schäden abzuarbeiten. Die aus dieser Zeit gewonnene Erfahrung macht deutlich, dass Versicherer schwer vorhersehbare Ereignisse und ein hohes Schadenaufkommen künftig nur mit hochgradig digitalisierten Prozessen adäquat bewältigen können.
Besonders in zeitkritischen Ausnahmesituationen unterstützen sie KI-Tools dabei, sich den Gegebenheiten flexibel und reaktionsschnell anzupassen. Mit dieser Strategie können Versicherungsunternehmen Schadenkosten gezielt steuern, statt nur auf sie zu reagieren.
Aber auch in Nicht-Krisen-Zeiten machen datengetriebene Entscheidungen das Schadenmanagement schneller, flexibler und damit kundenfreundlicher. Führt künstliche Intelligenz immer mehr zeitraubende Routinetätigkeiten automatisch aus, eröffnet das den Mitarbeitenden entsprechende Freiräume. Sie können sich intensiver um die Bewertung und Steuerung komplexer Schadenfälle kümmern. Das führt zu verringerten Kosten bei gleichzeitig erhöhter Kundenzufriedenheit – eine Kombination, wie sie sonst eher selten zu finden ist.
KI behält das Firmengedächtnis im Unternehmen
Des Weiteren hilft künstliche Intelligenz Versicherern auch, der „Great Resignation“ – also einer Welle freiwilliger Kündigungen – und dem herrschenden Fachkräftemangel zu begegnen. Es bleiben nicht nur immer weniger Mitarbeitende bis zum Rentenalter in einem Unternehmen. Auch werden in den nächsten zehn Jahren viele loyale Expertinnen und Experten aus den geburtenstarken Jahrgängen in den Ruhestand gehen.
Eine Möglichkeit, ihr Wissen in der Firma zu halten, sind KI-Tools. Sie werden mit Daten aus dem Erfahrungsschatz der erfahrenen Mitarbeitenden angelernt, wobei spezielle Machine-Learning-Algorithmen zum Einsatz kommen, durch die künstliche Intelligenz ganze Entscheidungsprozesse übernehmen kann. So können Versicherer organisatorisches Wissen konservieren und für die kommenden Generationen nutzen.
Inwieweit künstliche Intelligenz im eigenen Unternehmen eingesetzt werden kann, entscheidet sich nicht nur auf technologischer Ebene. Auch die Akzeptanz der Mitarbeitenden ist dafür ausschlaggebend. Hier spielt die sogenannte Augmented Intelligence eine Schlüsselrolle. Denn sie ersetzt den Menschen nicht, sondern unterstützt ihn mit Insights und Handlungsempfehlungen dabei, bessere und schnellere Entscheidungen zu treffen. Damit bleiben die Mitarbeitenden in die Prozesse eingebunden und haben Transparenz und Klarheit darüber, was die Maschine macht.
Die Bedeutung von Data Analytics steigt
Die Corona-Pandemie hat die digitale Transformation der Versicherer eindrucksvoll beschleunigt. Nun müssen sie die nächsten Schritte gehen, damit sie neue Marktherausforderungen wie erhöhtes Schadenaufkommen und Fachkräftemangel ebenso erfolgreich bewältigen können. Hier werden Data Analytics und datengetriebene Prozesse, die auf Augmented Intelligence basieren, künftig eine noch bedeutendere Rolle spielen.
Gerade im Schadenfall, der als Moment der Wahrheit gilt, ist das weitere Potenzial von automatisierten Prozessen sowie intelligenter und verknüpfter Datenanalyse und -nutzung enorm. Sie ermöglichen es Versicherern, selbst in einem herausfordernden Umfeld ein positives Erlebnis zu schaffen und das Vertrauen ihrer Kundinnen und Kunden zu stärken.
Der Autor Dr. Volker Meise ist, Director Portfoliomanagement & New Products bei Eucon.