Wie hat sich vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs und der hohen Energiepreise das Segment Gewerbeversicherung bei Ihnen entwickelt?
Haddou-Temsamani: Insgesamt müssen wir mit mehreren Effekten umgehen. So hat die Inflation insbesondere bei den Schadenaufwänden zu entsprechenden Preissteigerungen geführt. Das Thema gilt es eng zu beobachten und zu managen. Im Gesamtportfolio sehen wir aktuell in unseren Zahlen keine gravierenden Auswirkungen. Wir führen das aber auch auf das Risikoportfolio zurück, denn wir sind in vielen Sparten und Geschäftsfeldern diversifiziert. Von daher sind die Effekte bei uns recht überschaubar. Nichtsdestotrotz haben wir unseren Kunden als auch unseren Vertriebspartnern viele Maßnahmen und Möglichkeiten an die Hand gegeben, um möglichen Effekten aus der Kundenperspektive entgegenzuwirken: Themen wie Stundung, den Kunden beitragsseitig für eine Übergangszeit entgegenkommen, den Schaden schnell und effektiver steuern etc.
Neuhalfen: Bei uns ist das ähnlich. Wir haben eine stabile Entwicklung, es ist tatsächlich robust. Die Nachfrage hat sich nicht verändert, auch Themen wie Stundung sind ja Maßnahmen gewesen, die viele Versicherer vorgenommen haben. Es ist tatsächlich erstaunlich, wenn man sich an die wirtschaftlichen Schwierigkeiten erinnert, an die sich abzeichnende Rezession, wie sich der Mittelstand doch recht robust durch diese Krise durchgearbeitet hat. Spiegelbild dieser wirtschaftlichen Entwicklung ist dann eben auch der Versicherungsmarkt.
Hackbarth: Die Kunden haben nicht das Hauptproblem Versicherungen. Die haben ganz andere Probleme. Bei uns ist das Versicherungsgeschäft robust, es gibt keine besonderen Auffälligkeiten. Das unterscheidet die aktuelle Krise ganz elementar von der Coronakrise. Da war es ja so, dass einige Branchen massiv betroffen waren, zum Beispiel die Gastronomie. Die Unternehmen hatten Umsatzeinbrüche bis auf null. In der aktuellen Krise ist es so, dass der Gesamtmarkt betroffen ist. Privatkunden sind von der Inflation genauso betroffen, wie Gewerbeunternehmen. Deswegen gibt es keine speziellen Effekte in der Gewerbeversicherung, sondern nur die üblichen Effekte.
Neuhalfen: Viele Vermittler und Kunden haben akzeptiert, dass man aktuelle Verträge und Risikobewertungen haben sollte. Das ist der Lerneffekt aus der sprunghaften Inflation des letzten Jahres. Jetzt haben wir uns in einer mittleren Inflation eingependelt. Von daher ist es fast wieder Normalität geworden, und in der Tat, es gibt wenige Branchen, die wirklich eklatante Probleme haben. Am Ende müssen wir uns wahrscheinlich daran gewöhnen, nicht mehr die Nullzinswelt der letzten 20 Jahre zu haben. Wir leben einfach in einer anderen Zeit, und Versicherungswirtschaft, Vermittler, aber auch viele Gewerbekunden sind echt lernfähig.
Haddou-Temsamani: In dem ein oder anderen Thema stecken auch große Chancen. Es besteht eine große Kundennachfrage nach passenden Lösungen für die aktuellen Herausforderungen. So haben wir beispielsweise in relativ kurzer Zeit einen Service zum Nebenkostenabrechnungscheck entwickelt, um den Endverbrauchern professionelle Unterstützung zu bieten: Ist die Preissteigerung, die vorgenommen wurde, adäquat? Sind die zukünftigen Abschläge adäquat? Wenn dem nicht so ist, stehen wir mit Rat und Tat zur Seite – über die Rechtsdienstleistungen, die wir in unseren Produkten anbieten.
Nachhaltigkeit ist ja ein Megatrend in der Branche. Wie spiegelt sich das in den Gewerbeprodukten wider?
Haddou-Temsamani: Wir haben für uns definiert, dass im Produktentwicklungsprozess die Nachhaltigkeit ab sofort ein Kernthema ist. Das heißt, wir prüfen den Prozess von A bis Z, auch hinsichtlich nachhaltiger Aspekte, und befinden uns momentan in einem Lernmodus. Um mal ein paar Beispiele aus der Schadenregulierung zu nennen: Wir alle kennen das Thema Zeitwert, Wiederbeschaffungswert. Auch da haben wir das Thema Nachhaltigkeit mit einfließen lassen. Wenn eine nachhaltige Wiederbeschaffung oder Reparatur möglich ist, dann zahlen wir bis zu 30 Prozent mehr. Der Klassiker ist: Die Waschmaschine geht kaputt, und wenn sie durch eine Waschmaschine ersetzt wird, die eine bessere Effizienzklasse hat, dann würden wir den Weg gehen. Aber auch da stellt sich die Frage: Wann macht eine Reparatur noch Sinn? Wenn sie Sinn macht, dann würden wir auch erhöhte Reparaturkosten in Kauf nehmen. Auch den Beratungsprozess an sich haben wir vor einigen Jahren voll digitalisiert, sodass wir unseren Papierverbrauch um circa 80 Prozent reduzieren konnten.
Neuhalfen: Wir müssen weg von den ganzen Wäldern Papier, die wir als Versicherungswirtschaft produzieren. Die Möglichkeiten sind da. Das wird ein stetiger Prozess sein. Ich bin überzeugt, die Welt, die wir noch kennen, in der man analog mit Tarifbüchern gerechnet hat, wird es nicht mehr geben. Die nächste Generation wird im digitalen Umfeld agieren, und in diesem Umfeld wird auch der Vermittler mit seinen Kunden sprechen. Nachhaltigkeit ist ein Argument, und das gilt nicht nur für die Prozesse, sondern auch für die Produktentwicklung und die Leistungserstellung, es ist nicht mehr wegzudenken. Es ist ein Trend, der gekommen ist, um zu bleiben.
Hackbarth: Aus meiner Sicht muss man beim Thema Nachhaltigkeit unterscheiden zwischen dem Kernversicherungsprodukt und der Nachhaltigkeit des Versicherungsunternehmens selbst. Wir haben unsere Produktwelt komplett überarbeitet und im Juli auch im Gewerbesegment nachhaltige Deckungselemente eingeführt. Da geht es um ökologische Themen in der Grunddeckung wie E-Bikes und Ladesäulen. Wir haben aber auch Themen wie die Begrünung von Dächern, wenn ein Dach zu reparieren ist. Das sind Versicherungsprodukte, die dem Zeitgeist und den aktuellen Herausforderungen rund um das Thema Nachhaltigkeit entsprechen. Zusätzlich bieten wir eine Energieberatung an. Denn die Energiekosten sind der Bereich, in dem die Kunden den größten Handlungsdruck spüren und nach Einsparmöglichkeiten suchen. Das ist es, was die Unternehmer bewegt. Sie wollen nicht Nachhaltigkeit zum Selbstzweck, sondern sie wollen damit Geld sparen, und Energie ist nun mal das teuerste Element der Nachhaltigkeit. Natürlich beschäftigen wir uns auch mit unserem eigenen CO2-Footprint. An unseren großen Standorten sind wir bereits klimaneutral. Wir beziehen regionales Essen, haben eine E-Auto-Flotte und so weiter. Aber unser größter Hebel liegt im Asset Management. In der Kapitalanlage haben wir einen sehr hohen Anteil an nachhaltigen Investments, in Wind- und Solarparks. Relativ gesehen zum Kapitalanlagevolumen sind wir in dem Segment in Deutschland der größte Investor und das schon seit vielen Jahren.
Vor dem Hintergrund der Inflation und des Ukraine-Kriegs scheint Nachhaltigkeit aber nicht mehr so sehr im Fokus zu sein. Wie schwierig ist es, das Thema bei den Unternehmenskunden zu platzieren?
Haddou-Temsamani: Für unser Haus kann ich sagen, dass dieses Thema fest in unserer Unternehmensstrategie verankert ist und aus allen Dimensionen beleuchtet wird. Wir befassen uns mit unserem eigenen CO2-Abdruck und initiieren Veränderungen. Zugang zum Recht ist für uns ein elementares Thema, in dem wir weitere Entwicklungen initiieren. Gerade für die soziale Komponente aus ESG können wir als Rechtsschutzversicherer einen besonderen Beitrag leisten. Ich persönlich gehe davon aus, dass das Thema Nachhaltig auch bei unseren Unternehmenskunden bleibt. Es manifestiert sich aktuell in der Gesellschaft. Anspruchsvoll ist die Definition von Nachhaltigkeit aus den unterschiedlichen Perspektiven. Wir können als Versicherer mit dazu beitragen, mehr Transparenz zu erzeugen, insbesondere in den Gesprächen mit unseren Kunden.
Neuhalfen: Nachhaltigkeit ist kein Selbstzweck mehr. Alle unsere Häuser haben Nachhaltigkeitsstrategien und erstellen Nachhaltigkeitsbilanzen. Es ist kein Greenwashing, es kommt von innen heraus und führt zu multiplen Lösungen. Ob man mehr Webkonferenzen macht statt Präsenzsitzungen, mehr Elektrofahrzeuge bewegt statt Verbrenner: Es ist eine Ausprägung von vielen Dingen, die Normalität geworden sind. Aber auch hier gilt: Wir haben noch viel zu tun.
Neben dem Thema Nachhaltigkeit sehen wir ja die Digitalisierung, die ebenfalls ein wichtiger Trend ist. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum alle Angst vor Cyberattacken haben, sich aber letztendlich keiner in die Brandschutzversicherung des 21. Jahrhunderts wagt?
Hackbarth: Wir sehen zwar ein starkes Wachstum in der Cyberversicherung, aber es könnte noch mehr Dynamik in dem Segment sein, und das hat verschiedene Ursachen. Die Beratung ist eine zentrale Frage. Wer kann Cyberversicherung gut beraten und traut sich an das Thema? Wir unternehmen gerade intensive Anstrengungen, um die Cyberversicherung den Vermittlern so nahezubringen, dass sie diese adäquat anbieten können. Bei größeren Unternehmen gibt es einen Zugang zu Underwritern in der Vertriebsmannschaft, darüber ist es etwas einfacher. Aber im gewerblichen Segment ist es so: Die Awareness ist da, sie wird von Tag zu Tag größer, sie steigt bei jedem Blick in die Zeitung. Aber es ist noch nicht durchdringend. Wenn man den Kunden deutlich macht, dass die Themen Schadendienstleister und Präventionsdienstleistungen im Paket enthalten sind, ist die Attraktivität des Produkts direkt sehr groß.
Neuhalfen: Das Problem ist, dass das, was wir Cyberschaden nennen, ein in aller Regel nicht sichtbarer Schaden ist. Wenn man Kunden fragt, was der Feuerschaden ist, hat jeder sofort das Bild vor Augen und kann sich die rauchenden Trümmer vorstellen. Leider denken viele Unternehmer über Cyberattacken noch immer: Das ist nicht so schlimm. Mir passiert das eh nicht. Ich bin ein viel zu kleines Unternehmen. Warum soll mich einer der bösen Jungs angreifen? Wir wissen mittlerweile, dass das nicht stimmt. Die Technologie ist so weit fortgeschritten, dass die Trojaner, die Viren und die bösen Programme wie Eimer Wasser ausgekippt werden, und das Wasser läuft irgendwohin. Da, wo die schwächste Stelle ist, läuft es auch in die Keller hinein. Das ist leider Gottes der Fall, und plötzlich steht der Florist mit seiner elektrischen Kasse da und weiß nicht mehr, wie er bezahlt bekommen kann. Oder der Arzt kommt nicht mehr an seine Patientendaten heran. Das ist jedem klar. Das Problem ist nur: Man muss sich mit einem neuen Thema beschäftigen, es muss beraten werden. Es kommen Fragen, die nicht jeder Vermittler aus dem Stand sofort beantworten kann. Es gibt eine latente Unsicherheit, das ist Teil der Wahrheit. Genau deswegen würde ich jedem Vermittler die Empfehlung geben, jetzt in den Chancenmodus umzuschalten. Wir haben da ein unbestelltes Feld, und es gilt, die Ernte einzufahren.
Haddou-Temsamani: Wir stellen in der Diskussion mit den Endverbrauchern fest, dass Cyber ein eher abstraktes Phänomen ist. Die Analogie ist eigentlich relativ einfach: Wenn man einen Kiosk betreibt, hat man eine Tür und entsprechende Sicherheitsmaßnahmen, damit da nicht eingebrochen wird. Dasselbe gibt es auch im digitalen Kontext. Ersteres ist greifbar, letzteres nicht. Hat man ein Backup, auch für das Kassensystem? Wie sicher ist das? Ist eine Firewall da? Das sind Fragen, mit denen sich viele Verbraucher nicht befassen und deswegen muss an der Stelle ein Höchstmaß an Beratungsintensität geleistet werden. Ich kann jedem Unternehmen nur empfehlen, sich intensiv mit dem Thema Cybersicherheit auseinanderzusetzen – und zwar auf Führungsebene.
Thema Digitalisierung, wir sind ja schon mittendrin: Wie digital lässt sich eigentlich die Gewerbeversicherung spielen?
Neuhalfen: Emotionen und Empathie kann man nicht digitalisieren. Die Vertrauensbasis wird weiterhin der Mensch sein. Das ist ein gutes Zeichen für die Vermittlerschaft. Wir werden nach wie vor „People Business“ haben, davon bin ich überzeugt. Digitalisierung ist eben kein Selbstzweck. Da, wo es sinnvoll ist, sehr gerne. Da, wo standardisierbare Prozesse existieren, wird die Digitalisierung immer mehr Einzug halten. Aber da, wo es nicht geht oder nicht sinnvoll ist, sollten wir uns wie bei der Maßkonfektion freuen, dass es noch Menschen und manuelle Entscheidungen gibt.
Hackbarth: Ich finde bei der Digitalisierung die Trennung zwischen Beratung und Prozessen extrem wichtig. Wir stellen fest, dass Beratung und Abschluss des Versicherungsproduktes bevorzugt persönlich erfolgen. Die Wachstumsraten für den Direktabschluss in der Gewerbeversicherung auf Vergleichsportalen sind gering. Die Wachstumserwartungen, die man an diesen Abschlussweg hatte, haben sich nicht erfüllt und die Steigerungsraten sind auch nicht hoch. Der Gewerbekunde möchte persönlich beraten werden. Er will nicht selbst Tarifierungsrechner bedienen, nur im Einzelfall. Vielleicht klickt sich der technikaffine Friseur mit zwei Mitarbeitern durch und schließt eine Haftpflichtversicherung online ab. Aber der Anteil der Online-Abschlüsse ist insgesamt sehr gering. Deswegen würde ich auf die persönliche Beratung setzen und dahinter so viel digitalisieren, wie es geht, mit Tarifrechnern, Beratungstools etc. Weitere Folgeprozesse sollten hoch digital angeboten werden. Aber der persönliche Kontakt wird auch das nächste Jahrzehnt noch den Großteil der Beratungen im Gewerbesegment ausmachen.
Haddou-Temsamani: Auch wir setzen auf die persönliche Beratung und darauf, dass die Digitalisierung den Beraterinnen und Beratern Freiräume gibt, um eine intensive und bestmögliche Beratung durchzuführen. Daher haben wir ihnen eine Beratungsapp zur Verfügung stellt, die wichtige Dokumentationsaufgaben abnimmt. So kann der Kunde mit seinen individuellen Bedürfnissen ins Zentrum des Beratungsgesprächs gestellt werden.
Wir haben ja immer noch die hohe Inflation und wissen nicht, wie die Energieversorgung im Herbst und Winter aussehen wird. Was bedeutet diese Gemengelage für die Gewerbeversicherung?
Haddou-Temsamani: Ich habe sehr hohe Erwartungen. Das liegt daran, dass wir aktuell ein neues Produkt entwickeln, das ein paar besondere Highlights im Gewerbeversicherungsmarkt haben wird. Punkt eins: Es wird ein Kombiprodukt mit einem einzigen Antragsberatungsprozess, einem Beitrag und einer Police sein. Punkt zwei: Alle relevanten Sparten (Rechtsschutz, unsere DNA, Betriebshaftpflicht und eine Sachinhaltsversicherung) sind in dem Produkt absicherbar. Es wird eine Differenzdeckung geben und als Novum im Markt für Gewerbeversicherungen ein Schadenfreiheitsklassensystem, das man eigentlich nur aus der Kfz-Versicherung kennt.
Hackbarth: Ich sehe gemischt in die Zukunft. Zum einen ist das Gewerbeversicherungssegment von sehr starkem Konkurrenz- und Wettbewerbsgebaren geprägt. Auch im Gewerbesegment wird der Markt härter, weil die Schadeninflation und die wirtschaftliche Gemengelage, die wir diskutiert haben, dazu führen, dass Versicherer sich ihre Profitabilität in diesem Segment sehr genau anschauen werden. Zum anderen sehe ich viel Marktdynamik bei den Maklerhäusern, was auch die Versicherer trifft und Märkte durcheinanderwirbelt. Darin stecken große Chancen für gut aufgestellte Versicherer.
Neuhalfen: Wir sind in der volatilsten Zeit, die wir bisher erlebt haben. Deswegen ist Vorausschau wirklich schwer. Trotzdem blicke ich mit Zuversicht in die Zukunft, auch länger als sechs Monate. Ich messe diese positive Einschätzung an den Rückmeldungen aus unserer Vermittlerschaft. Wir merken den Zuspruch, dass unsere Positionierung als Partner des Vermittlers im Mittelstand verfängt. Wir haben fest vor, diesen Kurs fortzusetzen.
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