EXKLUSIV

Individuell, fair und datenbasiert: Der Weg zu neuen Versicherungsprodukten

Andreas Lietsche, Avenga, Client Service Director
Foto: Avenga
Andreas Lietsche, Client Service Director bei Avenga.

Herkömmliche Versicherungsmodelle stoßen durch steigende Schadenquoten an ihre Grenzen, doch die Lösung liegt auf der Hand: Daten! Wie sich durch clevere Nutzung von Sensoren und Telematik Risiken besser managen und Prämien anpassen lassen. Von Andreas Lietsche

Seit 2020 liegt die Schadenquote in der Sachversicherung für Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft in Deutschland über den Einnahmen der Versicherer. Mit anderen Worten: Seit circa vier Jahren verliert die Versicherungsbranche stetig Geld. Laut einer Statistik des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft für das Jahr 2023 wird in den genannten Bereichen eine Schadenkostenquote von 106,1 Prozent verzeichnet.

Das Warnsignal ist deutlich und die Versicherungsbranche steht angesichts weiterhin hoher Schadenquoten vor erheblichen Herausforderungen. Herkömmliche Ansätze zur Risikobewertung und Prämienkalkulation stoßen auf Schwierigkeiten beziehungsweise sind schlichtweg nicht länger rentabel. Doch moderne Technologien eröffnen neue Möglichkeiten zur Risikominimierung und Optimierung des Versicherungsgeschäfts.


Das könnte Sie auch interessieren:

Ein hervorragendes Beispiel liefert der Handel, der schon lange sogenannte Heatmaps (Wärmekarten) einsetzt. Dabei handelt es sich um grafische Darstellungen von Daten, bei denen Werte durch Farben repräsentiert werden. Sie werden verwendet, um Muster, Trends oder Anomalien in großen Datenmengen schnell zu visualisieren.

Je intensiver eine Farbe ist, desto höher ist in der Regel der Wert, den sie darstellt. So ist beispielsweise direkt erkennbar, wo sich im Laden besonders viele Besucher aufhalten, wie die Laufrouten sind, oder wo es zu ungewollten Verzögerungen kommt. Durch entsprechende Anpassungen der Verkaufsfläche können sodann entsprechende Verbesserungen durchgeführt werden.

Daten eröffnen der Versicherungsbranche neue Möglichkeiten

Mithilfe von Sensoren, Telematik und weiteren internen oder auch externen Datenquellen können Versicherer heute individuelle Risiken weitaus genauer bewerten als jemals zuvor – und Prämien entsprechend anpassen. Nehmen wir ein hypothetisches Beispiel, das fast jedem von uns täglich begegnet: Milchprodukte. Damit diese ihre festgesetzte Mindesthaltbarkeit erreichen, müssen sie durchgehend in Kühlräumen aufbewahrt werden. Wird die Kühlkette unterbrochen und im Regal des Supermarkts stehen Käse und Joghurt, die nicht mehr genießbar sind, fallen Kosten für verdorbene Ware an – eigentlich ein klarer Fall, bei dem die Versicherung einspringen muss.

Mithilfe der Sensorik kann nun allerdings festgestellt werden, dass zum Beispiel die Tür einer Kühlkammer für einen zu langen Zeitraum geöffnet war. Die Frage, wer an dem entstandenen Schaden Schuld trägt und wer für ihn aufzukommen hat, lässt sich dadurch neu und gerechter bewerten.
Im Idealfall kann die neue Technologie sogar präventiv eingesetzt werden, um potenzielle Schäden von vornherein zu verhindern. So kann etwa bei besonders temperatur-sensitiven Produkten und schlechten Wetterbedingungen die Lieferung automatisch erst am Folgetag transportiert werden, wenn das Wetter geeigneter ist.

Doch die Möglichkeit neuer Versicherungsprodukte ist keinesfalls auf diese zwei Beispiele beschränkt. Nehmen wir die klassische Arbeit in einer Produktions- oder Lagerhalle: Egal ob bei der Warenannahme, der Intralogistik oder beim Versand, überall kann es zu Personen- oder Sachschäden, Produktionsausfällen und Warenverlusten kommen. Hier lässt sich mit modernen Technologien zum Beispiel leicht das Fahrverhalten eines Gabelstaplerfahrers messen und analysieren. Ist dieses risikobehaftet, kann er etwa durch eine Push-Nachricht darauf aufmerksam gemacht werden. Kommt es zum Schadensfall, lässt sich leicht nachvollziehen, ob es an der fehlerhaften Fahrweise oder einer Verkettung unglücklicher Umstände gelegen hat.

Auch ein auf Knopfdruck funktionierendes ESG-Reporting, das in den kommenden Jahren für immer mehr Unternehmen zur Pflicht wird, könnte für Assekuranzen ein attraktives Angebot darstellen. So kann ein Fuhrparkmanager mit den heutigen technischen Möglichkeiten beispielsweise problemlos und datenschutzkonform nachvollziehen, wie sich Mitarbeitende fortbewegen – ob sie zu Fuß gehen, das Fahrrad, den öffentlichen Nahverkehr oder das Auto nutzen. Diese Daten lassen sich anschließend automatisiert für Nachhaltigkeitsberichte verwenden.

In letzter Konsequenz kann die Digitalisierung des Fuhrparkverwaltung nicht nur eine wichtige Grundlage für transparente und effiziente Nachhaltigkeitsberichte schaffen, sondern durch das gewonnene Wissen die Dekarbonisierungsstrategien von Unternehmen nachhaltig positiv beeinflussen.

Porsche: Pay how you drive

Was für manchen Leser noch nach ferner Zukunftsmusik klingen mag, ist bei der Porsche Versicherung in Form von verhaltensabhängiger Prämiengestaltung längst Realität. Dabei werden mithilfe einer App Daten zum Fahrverhalten gesammelt und diese anhand von Kriterien wie beispielsweise der Einhaltung der Geschwindigkeitsbegrenzung, der Beschleunigung und Bremsung sowie der Fahrzeit bewertet.

Anschließend erhalten die Fahrer personalisiertes Feedback, das ihnen Anreize gibt, sicherer zu fahren – und Punkte als Belohnung, die gegen niedrigere Prämien und Merchandise eingetauscht werden können. Um das Interesse noch weiter zu erhöhen, gibt es bei der Porsche Versicherung monatliche Challenges, bei denen Versicherungsnehmer ihre Fahrkünste unter Beweis stellen und diverse Gewinne einstreichen können.

Und was ist mit dem Kollektivprinzip?

Traditionalisten mögen an dieser Stelle argumentieren, dass die Personalisierung von Versicherungsprodukten dem Grundprinzip der kollektiven Risikoübernahme entgegensteht. War es denn nicht immer so, dass viele einen – gleichen oder doch sehr ähnlichen – Geldbetrag einzahlen, damit Betroffene im Schadensfall aus der Kapitalsammelstelle einen Ausgleich bekommen konnten?
Das stimmt zweifellos. Allerdings war die Voraussetzung stets, dass der Umfang der potenziellen Schäden statistisch abschätzbar war.

Auf dieser Basis wurde dann mit versicherungsmathematischen Methoden der von jedem Mitglied des Kollektivs benötigte Beitrag bestimmt. Heute lassen sich statistische Risiken in vielen Fällen schlichtweg deutlich besser individuell abschätzen.

Die Personalisierung trägt somit dem berechtigten Grundsatz Rechnung, dass Personen mit höherem Risiko höhere Prämien zahlen, während Versicherte mit geringerem Risiko von günstigeren Tarifen profitieren. Anstatt das “Ende der Solidaritätsgemeinschaft” heraufzubeschwören, lässt sich also sogar argumentieren, dass diese Form der Prämienberechnung gerechter ist, weil sie persönliches Verhalten und Risiko berücksichtigt, anstatt alle Versicherten pauschal gleichzustellen.

Der Schlüssel zur Individualisierung: eine zentrale Datenplattform

So vielfältig wie die Versicherungsprodukte selbst sind auch die Daten, die zur Berechnung individualisierter Prämien benötigt werden. Ob es sich um Produktionsdaten, die durch Sensoren erfasst werden, Gesundheitsdaten, die mithilfe einer Smartwatch aufgezeichnet werden, oder um Fahrverhaltensdaten, die über eine Smartphone-App ermittelt werden, handelt – all diese Informationen müssen in der Regel mit zahlreichen weiteren internen und externen Datenquellen verknüpft werden, um fundierte Entscheidungen zu ermöglichen.

Eine zentrale Datenplattform bildet dabei die unverzichtbare Grundlage. Richtig genutzt, schafft sie Raum für Produktinnovationen und bietet Versicherern entscheidende Vorteile: präzisere Risikobewertungen, personalisierte Prämien sowie eine effizientere Schadensregulierung.

Marc Andreas Lietsche ist Client Service Director bei Avenga.

Weitere Artikel
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments