Gerade herkömmliche Versicherer schöpfen bei der Nutzung von technologischen Innovationen immer noch nicht aus den Vollen. Es herrscht Nachholbedarf; denn es sind eben diese Technologien, die den Schlüssel zur Sicherung zukünftiger Wertschöpfung darstellen. Folgende fünf technologischen Entwicklungen haben dabei eine besonders große Hebelwirkung:
Cloud-Computing
Durch Cloud-Computing ergeben sich völlig flexible und nahezu unbegrenzt skalierbare Hardware-Kapazitäten – doch diese Technologie kann für Versicherungsunternehmen sehr viel mehr leisten als die bloße „On-Demand‘‘-Bereitstellung von Hardware. Besonders attraktiv an modernen Cloud-Lösungen ist die Bandbreite an neuen Möglichkeiten. Vorhandene Daten können etwa mittels Analysen und maschinellem Lernen besser genutzt werden und auch die Kooperation mit Dritten wird durch cloudbasierte Services einfacher und sicherer gestaltet. Die Plattformen großer Anbieter stellen eine Fülle von Software- und Infrastruktur-Funktionalitäten bereit, die ohne Entwicklungs- und Wartungsaufwand direkt in eigenen Applikationen genutzt werden können. Die Cloud bildet also den universellen Ausgangspunkt, um Kernprozesse, Bestandssystem-Funktionen und kundennahe Anwendungen digital bereitzustellen.
Eingesessene Versicherungsunternehmen und Anbieter von Versicherungssoftware beschäftigen sich derzeit noch immer hauptsächlich damit, bestehende Anwendungen in eine Cloud-Umgebung zu übertragen. Die eigentlichen Vorteile des Cloud-Computing können aber erst dann ihre volle Wirkung entfalten, wenn die genutzte Software direkt für das Cloud-Umfeld neu entwickelt wird („cloud native“). Hier stehen die meisten Akteure der Branche aber noch ganz am Anfang.
Advanced Analytics
Als „Öl des 21. Jahrhunderts’“ werden Daten bezeichnet – und das nicht ohne Grund, denn sie stellen eine der wichtigsten Ressourcen unserer Zeit dar. Ihr Potenzial kennt auch die Versicherungsbranche schon lange, hier werden Daten mit Hilfe von statistischen Methoden analysiert, um so Prozesse zu optimieren, Effizienz zu steigern und aussagekräftige Vorhersagen zu treffen. Trotzdem versteckt sich auch hier noch eine Menge Innovationspotential: In den vergangenen Jahren wurden Technologien entwickelt, die die menschliche Kompetenz in Sachen Datenanalyse weit überbieten. Ein Beispiel ist das so genannte Deep Learning mit Hilfe künstlicher neuronaler Netze (KNNs). KNNs helfen dabei, Risiken besser zu selektieren und Schadenereignisse genauer vorherzusagen. Ihr Einsatz sollte im ersten Schritt nicht zwangsläufig dazu führen, bestehende Methoden und Prozesse über Bord zu werfen, vielmehr sollten diese ergänzt oder neugestaltet werden.
Der Einsatz von Deep Learning bringt allerdings nicht nur Vorteile mit sich. Eine Herausforderung ist dabei beispielsweise das “Black-Box”-Verhalten von Maschinen, mit dem wir Menschen teils nur schwer umgehen können. Beim Einsatz von KNNs ist nämlich von außen nicht ersichtlich, wie ihre Vorhersagen zustande kommen. Nehmen wir als Beispiel Autoversicherungen, deren Prämie auf einem durch Deep Learning ermittelten Sicherheits-Score basiert: Wird der Beitrag an der Fahrweise des Versicherungsnehmers festgemacht, so erscheint das auf den ersten Blick sinnvoll. Doch für Nutzer ist dabei nicht ganz klar ersichtlich, wie die Höhe des Versicherungsbeitrags letztendlich genau zustande kommt.
Standardisierte Schnittstellen
Mit den BiPRO-Normen verfügt die Versicherungsbranche schon jetzt über Standards in Sachen Schnittstellen und Datentransfer – und das ist auch gut und wichtig. Allerdings sind diese schon deutlich in die Jahre gekommen; ihre Modernisierung verzögert sich immer wieder durch die „basisdemokratischen“ Prozesse, die bei einer solchen Normierung nun einmal nötig sind. Natürlich wird BiPRO auch in den kommenden Jahren noch eine wichtige Rolle spielen – vor allem im Maklermarkt. Daneben gibt es aber noch viele weitere Möglichkeiten, wie Versicherer neue Schnittstellen-Technologien für sich nutzen können.
Besonders bei eingebetteten Versicherungen, sogenannten Embedded Insurances, kommen modernere REST-Schnittstellen zum Einsatz. Ihr Vorteil: Mit ihnen kann der Versicherungsvertrieb direkt in bestehende Drittsysteme wie die von Kassen oder Online-Shops eingebunden werden. Doch auch im Backoffice verfügt die Technologie über erhebliches Potential. Denn Versicherungs-Kernsysteme, die den Datenaustausch über solche Schnittstellen leisten, können ebenfalls leicht und ohne großen Zeitaufwand mit bestehenden Systemen zum Beispiel für Customer Relationship Management (CRM), Prozesssteuerung, Finanzen, Betrugserkennung und viele mehr verknüpft werden.
Low- and No-Code
Bisher mussten Produkte und Geschäftslogik immer in den Verwaltungssystemen der Versicherer programmiert werden. Sollten neue Prozesse oder Produkte umgesetzt werden, ist das Fachwissen von IT-Spezialisten erforderlich. Doch diese sind aufgrund des Fachkräftemangels schwer umkämpft und ihr Einsatz ist dementsprechend teuer. Hier können Low-Code- beziehungsweise No-Code-Plattformen weiterhelfen. Denn wird die Geschäftslogik außerhalb des Software-Codes konfigurierbar gemacht, dann können auch Anwender ohne spezielle IT-Fähigkeiten – also Mitarbeiter, die lediglich über digitales Grundverständnis verfügen – jederzeit Änderungen vornehmen. So können komplexe Prozesse und Automatisierungen technologieseitig deutlich schneller und kostengünstiger umgesetzt werden. Spieler auf dem Versicherungsmarkt, die in diesem Bereich eigene Entwicklungen vorantreiben, haben deshalb einen erheblichen Wettbewerbsvorteil.
Moderne Software-Architektur
Früher wurden alle benötigten Funktionen für ein Geschäftsmodell innerhalb eines einzigen Software-Programms – also monolithisch – umgesetzt. Wenn neue Funktionen benötigt wurden, musste die Anwendung um die entsprechenden Codezeilen ergänzt werden. Das Endergebnis: Über die Jahre entstanden so gigantische Quellcodes mit vielen internen Abhängigkeiten einzelner Module und Funktionen, die kaum ein Entwickler mehr überblickt. Müssen hier Änderungen vorgenommen werden, sind diese teuer und langwierig. Solche Software auf dem neuesten Stand zu halten ist eine Herkulesaufgabe. In vielen etablierten Versicherungsunternehmen wird deshalb einfach mit veralteten Systemen gearbeitet.
Nach heutigen Standards wird Software anders gebaut: Einzelne Funktionalitäten werden als eigene kleine Anwendungen umgesetzt, sogenannte Microservices. All diese Mini-Programme kommunizieren miteinander, indem sie mittels Nachrichten – grob vergleichbar mit automatisierten E-Mails – Informationen und Daten austauschen. Der Inhalt dieser Nachrichten ist standardisiert und auf das Wesentliche reduziert. Darüber hinaus „wissen“ die einzelnen Microservices aber nichts voneinander. Durch diese Art der Softwarearchitektur können neue Funktionen viel einfacher und schneller entwickelt und bestehende aktuell gehalten werden.
Wettbewerbsvorteil Kundenzentrierung
Doch wozu das Ganze? Ziel der digitalen Transformation und ihrer Maßnahmen sollte letztlich immer die Kundenzentrierung sein: Informationen müssen einfach zugänglich gemacht, Interaktionen schneller und unkompliziert gestaltet werden. Online-Verträge, personalisierte Angebote, digitale Schadensmeldungen und Customer-Self-Service bilden hierbei nur den Anfang einer Entwicklung, die die kommenden Jahrzehnte anhalten wird. Grundvoraussetzung für eine solch hohe Anpassungsfähigkeit an sich ändernde Kundenbedürfnisse ist, dass unternehmensinterne Prozesse schon jetzt digital und effizient gestaltet werden.
Autor Dr. Sebastian Sieglerschmidt ist CEO des 2018 in Berlin gegründeten Insurtechs Alteos.