In Deutschland gibt es rund 530 Versicherungsunternehmen und rund 450 Millionen Versicherungsverträge. Die Unternehmen haben Millionen Kunden und Petabyte von Daten. Wo und vor allem wie wollen Sie die Spielregeln für die Finanzbranche und speziell für die Versicherungswirtschaft verändern? Wo können Sie die Gesellschaften entscheidend unterstützen?
Jacobs: AWS kann Versicherungskunden auf zwei Ebenen unterstützen: Zum einen helfen wir ihnen, bestehende Anwendungen aus ihren Rechenzentren in die Cloud zu verlagern und auf diese Weise technische Altlasten abzubauen. Das ist ein wichtiger Aspekt, denn für die Wartung von Altsystemen verwenden viele Versicherer nach wie vor einen großen Teil ihrer IT-Budgets. Dieses Geld können sie sinnvoller in Technologien investieren, um Transformations- und Wachstumsinitiativen voranzutreiben. Zum anderen helfen wir unseren Versicherungskunden, schneller zu innovieren. Zum Beispiel zeigen wir ihnen, wie sie Anwendungen komplett in der Cloud entwickeln können, indem sie einzelne Cloud-Services wie Bausteine zu den gewünschten Lösungen zusammenfügen.
Derzeit konzentrieren sich die Versicherungskunden auf zwei große Innovationsbereiche: Daten und deren Analyse sowie die digitale Kundenerfahrung. Vor allem bei der Datenanalyse kann der neue Dienst Amazon FinSpace unterstützen. Letztlich sind alle Themen miteinander verknüpft – die Migration von Altsystemen in die Cloud, das Beherrschen von Daten, der Ausbau von Data-Science-Kompetenzen sowie die Bereitstellung digitaler Kundenerfahrungen. Versicherungen arbeiten mit Daten, und digitale Kundenerlebnisse basieren darauf, dass der Umgang mit den Daten beherrscht wird.
Die Unternehmen haben jahrzehntelang Daten über ihre Versicherungsnehmer erfasst, die allerdings oft in Altsystemen eingeschlossen sind. Um ihre Kunden wirklich zu verstehen, müssen die Versicherer diese Legacy-Daten mit den heute verfügbaren externen und unstrukturierten Daten anreichern und sie dann mithilfe neuer Machine-Learning-Dienste auswerten. Das verschafft ihnen die Möglichkeit, ihre Kunden gezielt zu bedienen und durch die verbesserten Service-Interaktionen wieder neue Daten zu gewinnen, die dann weitere Verbesserungen anstoßen – ein gewinnbringender Kreislauf.
AWS bietet mehrere Dienste, mit denen Versicherer ihre Kunden unterstützen können. Dazu zählen die Replikation von Legacy-Daten in einen Cloud Data Lake, die Nutzung dieser Daten für neue oder verbesserte digitale Kanäle wie Cloud-basierte Callcenter und intelligente Chat-Bots sowie die Ausführung von ML-Diensten – etwa Sentiment-Analysen oder Empfehlungsservices, die im Hintergrund ablaufen.
Solche Dienste ermöglichen es den Versicherern, ihre Customer Experience und damit die Capture-Raten zu verbessern, das Abwandern von Versicherungsnehmern zu reduzieren oder die Net Promoter Scores zu erhöhen. In der Cloud können Kunden sowohl auf ML-Dienste als auch auf elastische Rechenleistung zugreifen. Das heißt, sie können skalieren und sofort Analysen erstellen, die ihr Geschäft unterstützen – unter strikter Einhaltung der Richtlinien für die Data Governance und Zugriffskontrolle.
Amazon FinSpace wird vorerst in den USA, Kanada und Irland angeboten. In Deutschland sehen 70 Prozent der Versicherer einen Mehrwert in der Zusammenarbeit mit Hyperscalern. Microsoft Azure hat hier derzeit einen Marktanteil von 36 Prozent, AWS und Google Cloud jeweils nur sechs Prozent. Gibt es vor dem Hintergrund der steigenden Nachfrage nach digitalen Lösungen von Seiten der deutschen Versicherungswirtschaft Überlegungen, auch hierzulande aktiv zu werden?
Jacobs: Über die Genauigkeit dieser Schätzungen kann ich nichts sagen. AWS konzentriert sich schon länger auf Cloud-Technologien, und wir verfügen über ein tieferes und breiteres Angebot an Cloud-Diensten und eine größere globale Präsenz in Bezug auf die Cloud-Rechenzentren als andere Anbieter. In Deutschland arbeiten wir speziell mit Finanzorganisationen wie Allianz, Deutsche Börse Group, ITERGO, Solarisbank, Talanx, Volkswagen Financial Services und Mambu zusammen. Was Amazon FinSpace betrifft: Wir haben den Dienst an den genannten Standorten zuerst eingeführt, aber weitere Regionen sind geplant.
Wir haben es selbst erlebt und hören in Gesprächen in Deutschland immer wieder, dass die Corona-Pandemie zum Katalysator für die Digitalisierung geworden ist. Wie fundamental waren die Veränderungen der vergangenen 15 Monate? Und welche betreffen die Finanzbranche, also Versicherungen und Finanzdienstleistungen? Wie schätzt Amazon FinSpace die Veränderungen ein?
Jacobs: Covid-19 hat den Fokus auf die Digitalisierung beschleunigt. Zu den taktischen Vorstößen zählen zum Beispiel die Modernisierung von Call-Centern, um die Menge der eingehenden Anrufe besser zu bewältigen. Oder die Ausstattung von Chatbots mit maschinellem Lernen und natürlicher Sprache, um Kundenfragen besser zu beantworten. Hinzu kommen strategische Initiativen wie die Entwicklung von rein digitalen Produkten – etwa Risikolebensversicherungen, die keine Blutchemie-Analyse erfordern, das Identifizieren alternativer Datenquellen im Underwriting oder Drohnenaufnahmen, mit denen sich Risiken bei Gewerbeimmobilien ermitteln lassen.
Oder auch mobil erfasste Daten, auf deren Basis die Kranken- und Lebensversicherungen ihre Mitglieder motivieren, einen gesünderen Lebensstil an den Tag zu legen. Nach vielen Gesprächen mit Kunden glauben wir, dass einige dieser Veränderungen zu grundlegenden Verschiebungen führen werden. Sicherlich wird es mehr digitale Kanäle und Produkte geben. Die Initiativen und Trends, die ich angesprochen habe, zeigen auch, wie wichtig Datenwissenschaftler für die Versicherungsbranche sind. Sie werden benötigt, um Services mithilfe von künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen zu entwickeln, die dazu beitragen, die Erfahrungen und Produkte zu unterstützen, die Versicherer anbieten wollen. Allerdings sind Datenwissenschaftler eine knappe Ressource. Mit unseren ML-Services und Amazon FinSpace tragen wir dazu bei, diesen Mangel zumindest teilweise zu beheben. Denn mit dem vereinfachten Zugang zu und der einfacheren Nutzung von maschinellem Lernen können unsere Kunden ihre Herausforderungen besser bewältigen.
Amazon beherrscht den Umgang mit Daten. Sie messen und analysieren die Bewegungen und das Kaufverhalten der Kunden. Sie liefern Produkte binnen Stunden direkt vor die Haustür. Wenn Sie die Erfahrungen ihres Mutterkonzerns auf die Versicherungswirtschaft übertragen würden: Was wären Ihre Schlussfolgerungen für die Versicherungswirtschaft?
Jacobs: AWS ist ein separates Unternehmen innerhalb von Amazon mit einer völlig anderen Kundenbasis, anderen Services und einem anderen Führungsteam. Ich kann nur erläutern, wie AWS unsere Kunden unterstützt. So hilft ihnen mein Team dabei, ihre Rechenzentren mithilfe unserer mehr als 200 Cloud-Services zu transformieren und schneller zu innovieren, etwa durch neue Geschäftslösungen und bessere Erlebnisse für ihre Endkunden.
Aber klar ist, dass Versicherer aus den Erfahrungen des Einzelhandels lernen können. Dazu zählen die Fokussierung auf Kundennähe, personalisierte Produkte, vorausschauende und kontextbezogene Angebote und Beratung sowie Transparenz bei der Abwicklung. Die Versicherungsbranche kann etwa die Abrechnung und Schadensabwicklung optimieren und dabei Endkunden und Versicherungsnehmer in den Mittelpunkt stellen. Solche intrinsischen Werte begrüßen viele Versicherer und setzen sie mithilfe von Cloud-Services um.
Die digitale Transformation hat die deutsche Versicherungswirtschaft seit einigen Jahren im Griff. Es gibt viele digitale Newcomer, Insurtechs und Fintechs. Aber es gibt auch die etablierten Gesellschaften mit älteren Datenverarbeitungssystemen, die sich bemühen, aufzuholen. Wo, glauben Sie, hinken die etablierten Versicherer bei der Digitalisierung hinterher? Wo sehen Sie die digitalen Baustellen?
Jacobs: Viele Unternehmen im Banken-, Versicherungs- und Kapitalmarktumfeld sind auf die Cloud umgestiegen. Etablierte Organisationen wie Allianz, Barclays, Goldman Sachs, HSBC und Standard Bank haben sich von ihrer On-Premises-Rechenzentrumsinfrastruktur verabschiedet, um die Cloud für Innovationen zu nutzen. Auch neue Banken wie Monzo, Tandem, Starling Bank und Bunq haben die Branche verändert.
Aber egal, ob Start-up oder etabliertes Unternehmen: Datengestützte Erkenntnisse, die sich mithilfe der Cloud gewinnen lassen, ermöglichen geschäftskritische Entscheidungen – etwa über Kundensegmentierung, Marktposition, Produktpreisgestaltung, Risiko, Sicherheit, Compliance und Überwachung. In einer On-Premises-Infrastrukturumgebung wären solche Analysen unerschwinglich. In der Cloud dagegen können Unternehmen riesige Datenmengen in Echtzeit speichern und verarbeiten und verschiedene Arten von Analysen und ML-Diensten schnell und einfach ausführen.
Glauben Sie, dass die Versicherer in Europa oder in Deutschland bei Machine Learning, KI oder dem Einsatz von Robo Advisor oder Chatbots von Ihren Erfahrungen profitieren können?
Jacobs: Immer mehr Unternehmen setzen auf maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz in der Cloud, um bestehende Prozesse effizienter zu gestalten, einen Mehrwert aus Daten zu ziehen und Innovationen voranzutreiben. Anfangs war es eine Herausforderung, KI und maschinelle Lernmodelle effektiv zu nutzen. Heute können Finanzdienstleister mithilfe der Cloud wesentlich einfacher neue Erkenntnisse aus Daten gewinnen und mit maschinellem Lernen Prozesse optimieren.
Bei AWS konzentrieren wir uns darauf, unseren Kunden die entsprechenden Fähigkeiten zu vermitteln. Jeder Entwickler, jeder Datenwissenschaftler muss sich mit dem Thema ML beschäftigen. Und wir machen die Technologien, die in der Vergangenheit nur für eine kleine Anzahl von gut finanzierten Unternehmen zugänglich waren, für alle verfügbar. Durch unsere Dienste ist die Finanzdienstleistungsbranche in der Lage, mehr Erkenntnisse zu gewinnen, hyperpersonalisierte Lösungen zu liefern, völlig neue Wege der Kundenansprache und -interaktion zu entwickeln und die Kundenbindung zu erhöhen – ganz zu schweigen von der Möglichkeit, Betrug vorherzusagen und zu verhindern. Das Verstehen von Daten macht die Entscheidungsfindung zu einer Wissenschaft und nicht zu einem Ratespiel.
Die Fragen stellte Jörg Droste, Cash.