Interview mit Neodigital CEO Stephen Voss: „Einsatz von KI ist nicht unser Problem in den nächsten fünf Jahren“

Foto: Anna Mutter
Stephen Voss: Stephen Voss: „Wenn zwei vertrieblich so unterschiedlich ausgerichtete Versicherer zusammengehen, hat man die Chance, viel voneinander zu lernen.“

EXKLUSIV 2017 startete Neodigital als kleines Insurtech im Versicherungsmarkt. Mittlerweile hat sich der Digitalver-sicherer auch als White-Label-Produzent in der Sachsparte einen Namen gemacht – und ist seit Frühjahr 2023 auch im Kfz-Versicherungsmarkt unterwegs. Cash. sprach mit Neodigital-CEO Stephen Voss über die Schadeninflation, die Digitalisierung in der Kfz-Versicherung und das Joint Venture mit der HUK-Coburg. Teil 1 des Strategiegesprächs.

Herr Voss, Neodigital ist jetzt etwas über sieben Jahre im Markt. Wie war das Geschäftsjahr 2023 für Neodigital?

Voss: Ausgezeichnet. Wir haben Mitte März 2023 neben der Sach-, Haftpflicht- und Unfallversicherung auch für die Neodigital Autoversicherung den Vertrieb für die Kraftfahrtversicherung aufgenommen und sind jetzt quasi ein SHUK-Anbieter am Markt. Das hat sich in zweierlei Hinsicht sehr gut entwickelt. Wir hatten uns für das Rumpfgeschäftsjahr 2023 rund 50.000 Risiken in Kfz vorgenommen. Dieses Ziel haben wir mehr als erreicht – in einem sicherlich mehr als angespannten Jahr. Der Engländer würde sagen: “It was a bumpy ride, but in the end it was fun”. Besser als so geht es in einem von Inflation und Schadenkosten getriebenen Jahr wohl kaum. Und das mit einer guten Lernkurve.

Was heißt das?

Voss: Es ist immer das eine, einen Kfz-Tarif in verschiedenen Ausprägungen auf den Markt zu bringen. Ob er dann in einem sehr dynamischen Umfeld von Vergleichern oder Aggregatoren funktioniert, ist das andere. Da haben wir im positiven Sinne dazugelernt. Ob es im Markt Selektionen gibt, die gegen einen Versicherer laufen, ist vorher nicht hundertprozentig absehbar.


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Das sieht man erst, wenn man im Markt ist. Und das Schöne ist, dass wir als Versicherungsfabrik das Gelernte sehr schnell umsetzen können. Aus dem Stand über 50.000 Kfz-Risiken in effektiv sechs Monaten am Markt zu platzieren, ist schon eine erstaunliche Vertriebsleistung. Was wir auch gemerkt haben, ist, dass die anderen Sparten von Kfz und der damit verbundenen höheren Sichtbarkeit profitiert haben. Und wir sind für diejenigen interessant geworden, die einen Produkt-Partner suchen, der alles hat.

Sie sprachen von der Lernkurve. Was hat funktioniert, was nicht?

Voss: Was funktioniert hat, war die Platzierung bei den Aggregatoren wie Check24, Verivox und Co. Auch die Positionierung bei den großen Maklerpools ist uns ausgesprochen gut gelungen, weil wir jetzt, gemeinsam mit der HUK-Coburg über das Joint Venture Neodigital Autoversicherung AG, im Bereich SHUK alles anbieten und dort jetzt im relevanten Set sind. Was am Anfang nicht geklappt hat, waren ganz banale Dinge: Die Zulassungsstellen bekommen ihre Daten zentral geliefert. Die Leiter der Zulassungsstellen sind aber quasi Herr ihrer eigenen Aktualisierung, das heißt, sie bekommen zwar die Daten aber es findet keine zentrale Aktualisierung statt, die wird immer lokal selbst initiiert. So kam es vor, dass der Kunde mit der eVB kam und die Zulassungsstelle den Versicherer nicht kannte. Das ist Deutschland.

Dass der deutsche Kfz Markt ein sehr dymanischer ist, war ebenso sicherlich keine Überraschung, dennoch mussten auch wir schnell lernen. Inflation, Werkstatt- & Ersatzteilpreise sind alles Faktoren, die schnell und direkt auf die Prämie wirken. Durch die überlegene Technik sind und waren wir in der Lage kurzfristig auf diese Veränderungen zu reagieren, um Ungleichgewichte im Portfolio zum Schutz der Versicherten im Kollektiv von vorneherein auszugleichen.  

So etwas kann man vorher in einem versicherungsmathematischen Modell natürlich nicht in voller Gänze abbilden. Das Training ersetzt eben nicht den Wettkampf. Deshalb ist es so wichtig, dass die Daten in Echtzeit verarbeitet und über die Reportingsysteme eingespielt werden. Nur so wird ein modernes und agiles Portfoliomanagement möglich.

Wie lange dauert eine Tarifanpassung?

Voss: Bei uns war das eine Sache von wenigen Tagen, inklusive der Analyse der Parameter. Ein klassischer Anbieter ist da bestenfalls in Monatsscheiben unterwegs, wenn nicht sogar in einem halben Jahr. Die Umsetzung ist dabei meist nicht das Problem, sondern das Erkennen.

Sie haben im Frühjahr vergangenen Jahres das Joint Venture Neodigital Autoversicherung AG mit der HUK-Coburg gegründet. Warum haben Sie die HUK-Coburg als Partner gewählt. Weil sie zu den digitalsten Kfz-Versicherern im Markt gehört?

Voss: Ja, das ist ein Grund. Aber nicht der Einzige. Die HUK ist einer der effizientesten Kfz-Versicherer den wir kennen. Sie sind Benchmark in der Effizienz, Benchmark in der Digitalisierung. Das gilt sowohl für die Prozesse als auch für das Pricing. Auch die Mentalität verbindet uns. Die Neodigital im äußersten Westen, im Saarland, die HUK eher im Osten Bayerns. Das macht etwas mit den Leuten. Wir haben uns erstaunlich gut verstanden. Das war auch ein Grund zu sagen, eine Kooperation mit der HUK ist hochinteressant. Außerdem konkurrieren wir mit unserem Angebot nicht mit den Kernmarken der HUK. Die HUK vertreibt u.a. die Kfz-Versicherung über ihre Ausschließlichkeit und die HUK24 ist ein Direktversicherer. Die Neodigital Versicherung AG dagegen ist ein Maklerversicherer und adressiert damit als Vertriebspartner für die Neodigital Autoversicherung AG den gesamten Maklermarkt.

Welche Rolle spielt Neodigital, welche die HUK in dieser Partnerschaft?

Voss: Grundsätzlich ist die HUK an dem Joint Venture beteiligt und Kapitalgeber. Weiterhin ist die HUK im Kfz-Produkt der Neodigital Auto, das über die Neodigital Vers vertrieben wird, der erfahrenere Partner, der dennoch große Freiräume lässt. Die Neodigital Autoversicherung AG übernimmt derzeit kaum Leistungen der HUK, die für die Tarifierung oder für die Abwicklung notwendig sind. Im Moment wird das Produkt und das Pricing über die Neodigital Auto abgewickelt. Der Vertrieb erfolgt über die Neodigital Versicherung AG. Es gibt auch keine aktuarielle Verbindung oder eine Verbindung der Schadenservices. Das ist der aktuelle Stand. Natürlich ist eine tiefere Zusammenarbeit im ein oder anderen Bereich in Zukunft nicht ausgeschlossen und kann durchaus sinnvoll sein.

Trotzdem: Sie haben ja keine Erfahrung in der Automobilbranche und dürften von dem dortigen Know-how profitiert haben?

Voss: Ein ganz klares JEIN. Das Team der Neodigital kann durchaus auf langjährige Erfahrung im Vertrieb von KFZ-Versicherungen zurückblicken. Dennoch hilft es, einen starken Partner an der Seite zu haben. Die Neodigital Autoversicherung hat einen Aufsichtsrat, der maßgeblich von der HUK besetzt ist. Die Neodigital Versicherung AG ist ein Maklerversicherer, die HUK ist ein Ausschließlichkeitsversicherer. Kommt vertrieblich also aus einer ganz anderen Ecke. Wenn zwei vertrieblich so unterschiedlich ausgerichtete Versicherer zusammenkommen, hat man auch die Chance viel voneinander zu lernen.

„Wir sind zu einem Zeitpunkt in den Kfz-Markt eingestiegen, als Wefox dort ausgestiegen ist und ziemlich viel verbrannte Erde hinterlassen hat. Makler schätzen Verlässlichkeit – hier Vertrauen aufzubauen braucht Zeit.“

Stephen Voss

So kann ein AO-Versicherer von heute auf morgen einen Tarif ohne viel vertrieblichen Gegenwind anpassen. Das funktioniert im freien Maklermarkt mit seinen entsprechenden Gepflogenheiten nicht. Wir sind seit dem 7. April 2017 erst verhältnismäßig junge sieben Jahre am Markt. Da ist das Vertrauen der Makler ein hohes Gut. Wenn man dort einen Tarif auf den Markt bringt, durchs Feld pflügt und ihn dann nach drei Monaten wieder vom Markt nimmt, kommt das nicht gut an. Und vielleicht erinnern Sie sich. Wir sind zu einem Zeitpunkt in den Kfz-Markt eingestiegen, als Wefox dort ausgestiegen ist und ziemlich viel verbrannte Erde hinterlassen hat. Makler schätzen Verlässlichkeit – hier Vertrauen aufzubauen braucht Zeit.

Die HUK stand im Frühjahr stark in der Kritik. Hat sich das auf Neodigital ausgewirkt?

Voss: Nein, das hat sich bei uns nicht bemerkbar gemacht. Natürlich haben wir mitbekommen, dass die HUK, wie viele andere Versicherer auch, in der Presse war.  Insgesamt war der Jahresanfang für viele Versicherer, die aus der Corona-Phase kommend im ersten Full-Post-Corona-Jahr mit allen damit einhergehenden Herausforderungen umzugehen hatten, spannend.

Warum geraten die Unternehmen unter Druck? Das hat doch nicht nur mit der Post-Corona-Normalisierung zu tun? Oder sind es auch die mangelnden Fähigkeiten, schnell und adäquat auf Kundenwünsche zu reagieren.

Voss: Das sind für die meisten Versicherer drei wesentliche Punkte. Analoge Prozesse, steigende Schadenfrequenzen und die Demographie. Viele Unternehmen sind in ihren Prozessen noch größtenteils analog. Es gibt einige große Versicherer im Markt, die aktuell Probleme mit ihren Service Levels haben. Die beiden Corona-Jahre haben dazu geführt, dass man den Bereich der Service- und Fachmitarbeiter nicht auf-, sondern eher abgebaut hat, weil die Schadenhäufigkeiten in dieser Phase abgenommen haben.

Gleichzeitig wurde vielerorts versäumt, diesen Personalabbau durch Automatisierung bzw. Teilautomatisierung zu kompensieren. Ab 2023 haben wir dann wieder höhere Schadenfrequenzen im Markt gesehen, aber weniger Mitarbeiter in den Fachabteilungen, weil nicht aufgebaut wurde. Hinzu kommt der demographische Faktor. Ein Kollege aus der Assekuranz hat vor einigen Wochen auf einem Kongress in Köln gesagt, dass das Durchschnittsalter in seinem Schadenbereich bei 55 Jahren liegt. In den nächsten fünf Jahren würden 40 Prozent seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter altersbedingt ausscheiden. Das heißt, er muss ersetzen oder automatisieren.

Was mich aber noch mehr erschreckt hat: Von seinen dezentralen Schadenregulierern scheiden im gleichen Zeitraum 50 Prozent altersbedingt aus. Wir hatten Corona, wir hatten weniger Frequenz, man hat nicht nachpersonalisiert und gleichzeitig versäumt, die Digitalisierung vor allem in den Schaden- und Serviceprozessen entsprechend zu automatisieren. Es gibt immer noch viele Versicherungen, bei denen eine Kontoänderung oder eine Schadensmeldung eines Versicherungsnehmers nicht automatisch ins System kommt. Das sind ganz banale Dinge, die bei uns funktionieren. Als Digitalversicherer werden wir immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, wir würden Arbeitsplätze vernichten. Das ist völliger Unsinn. Wir versetzen die Mitarbeiter entsprechend ihrer Qualifikation in die Lage, den Service im Betrieb oder in der in der Schadenbearbeitung qualifiziert abzubilden.

Glauben Sie, dass ein Sachbearbeiter mit einer Ausbildung zum Versicherungskaufmann Lust hat, jahrelang PDFs hin und her zu schieben? Es geht darum, die Mitarbeiter, die wir haben und die wir noch bekommen können zu befähigen, qualifiziert einzusetzen und nicht darum, im Schadenfall in der Maske einen Fall händisch zu öffnen. Das muss das System automatisch machen. Wenn ich mir die demografische Kurve in den Service- und Fachabteilungen der Versicherer anschaue, dann ist die Automatisierung und der Einsatz von KI in den nächsten fünf Jahren sicher nicht unser Problem.


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