Neodigital-CEO Stephen Voss: „Kleinere Versicherer werden sich nicht mehr in jeder Sparte dem Wettbewerb stellen können“

Neodigital / Portraitshooting , Stephen Voss, Vorstand Marketing und Vertrieb
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Neodigital CEO Stephen Voss

EXKLUSIV Die Versicherungsbranche hat in der Digitalisierung noch einen weiten Weg vor sich. Und nicht jede Gesellschaft wird die technischen Herausforderungen in Zukunft auch noch stemmen können. Weil nicht nur die finanziellen Mittel fehlen, sondern auch das Personal. Teil 2 des großen Strategiegesprächs mit Neodigital CEO Stephen Voss

Was machen die Unternehmen, wenn sie nach 2030 kein Personal mehr finden?
Voss: Da gibt es eine ganz harte Antwort. Wenn sie es sich leisten können, dann holen sie die Leute um jeden Preis. Das hat dann Konsequenzen für die Kostenquoten. Das wird nicht jeder mitgehen können. Wenn dem so ist, darf man sich die Frage stellen, ob man diese Sparte, diesen Bereich aufgibt oder eine andere Lösung findet. Wir führen aktuell Gespräche mit Versicherern, die uns ganz klar sagen, dass sie eigentlich zwar ein Allspartenversicherer sind, aber ehrlicherweise der Schwerpunkt auf Leben, BU und/oder Kranken liegt; dann noch etwa ein Wohngebäudeportfolio mit 50.000 Kunden und 30 Millionen Euro Bestandswert weiter zu betreiben, ist für sie wirtschaftlich vielleicht nicht mehr sinnvoll. Die Chance für uns liegt darin, dass wir als hoch automatisierter Versicherer quasi als Fabrik agieren und für den Partner die Sparte weiterführen.

Das Unternehmen behält die Marke, den Risikoträger, das Gesicht zum Markt und zum Kunden. Nach außen bleibt alles gewohnt gleich. Aber es hat nicht mehr die Last, die Sparte kostendeckend führen zu müssen, das würde dann bei einer Neodigital liegen. Es besteht offen gesagt für einige Versicherer auch kaum eine Chance, es jemals aus eigener Kraft wieder kostendeckend zu führen. Wir haben früher immer gesagt, die Konsolidierung im deutschen Markt findet statt, weil es zu viele Versicherer gibt. Das stimmt so immer noch.

„Die Konsolidierung findet auch statt, weil die kleineren Versicherer im Wettbewerb ohne hohe technische Investitionen nicht mehr bestehen können. Ob uns das gefällt oder nicht.“

Stephen Voss

Doch die Konsolidierung findet auch statt, weil die kleineren Versicherer im Wettbewerb ohne hohe technische Investitionen nicht mehr bestehen können. Ob uns das allen gefällt oder nicht. Das Thema wird aber nicht nur über die Wettbewerbssituation entschieden, sondern auch darüber, wie man Fachkräfte zu einem wirtschaftlich attraktiven Preis an das Unternehmen bindet und wie viele man davon benötigt. Es geht ebenso darum, alles zu automatisieren, was für den Kunden nicht unmittelbar emotional mit einem Servicefall oder Schaden verbunden ist.

Wie bewerten Sie die Aussage, dass sich einige Versicherer bewusst für den Run-off entscheiden, weil sie die Kosten für die Modernisierung nicht tragen können?
Voss: Das ist durchaus ein Thema. Und auch der Grund, warum die Versicherer mit uns darüber sprechen. Sie haben bislang aber auch nur diese beiden Möglichkeiten. Die Sparte einstellen oder defizitär weiterführen. Das werden wir mit einer dritten Option elegant ändern. Ein Beispiel. Die Kostenquote eines Wohngebäudeportfolios liegt im Markt gerne einmal über 20 Prozent. Das ist langfristig zu viel, um wettbewerbsfähig zu bleiben.


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Wenn Sie diese Kosten im Preis durchsetzen würden, hätten Sie sich selbst ganz fix vom Markt verdrängt. Hinzu kommt, dass die Bestandskunden auch genauso eine Weiterentwicklung im Service erwarten wie das Neukunden wünschen dürfen. Das ist auf alten Backend Systemen so nicht mehr darstellbar. Deshalb führen wir die Diskussionen mit den Versicherern für unsere neue dritte Option: Schicken wir die Bestände in den Run-off oder gibt es einen externen Partner, wie die Neodigital, der digital so aufgestellt ist, dass er die Sparte operativ weiterführt, zu einem festen Kostensatz, der in der Regel deutlich unter dem liegt, was heute aufgerufen wird.

Wenn das Ergebnis positiv für die externe Weiterführung ausfällt, dann gibt es eine technische und gegebenfalls noch eine vertriebliche Migration, das heißt, wir übernehmen die Produkte des Anbieters komplett auf unsere Plattform nach klaren einheitlichen Regeln. Das ist der einzige Trade-off. Wenn wir das machen, werden wir nicht jede handgemalte Police übernehmen, das widerspricht dem Fabrikgedanken und wäre ineffizient. Das Incentive diesen Schritt zu gehen, liegt auf der Hand. Mal eben über zehn Millionen Euro Digitalisierungskosten mit ungewissen Ausgang für einen 50-Millionen-Euro-Bestand kann man sich nicht leisten. Das ist betriebswirtschaftlicher Unsinn.

„Das viel beschworene Cross- und Up-Selling ist meist Schönrechnerei.“

Stephen Voss

Die laufenden Kosten sind auch deutlich günstiger. Wenn man aus strategischen Gründen Wohngebäude oder Kfz anbietet, weil der Produktmix beim Kunden den entscheidenden Vorteil bringt, kann man ein defizitäres Spartenmodell über andere Produktsparten quersubventionieren. Das bestreite ich nicht. Das sollte man sich aber gut überlegen. Das viel beschworene Cross- und Up-Selling ist meist Schönrechnerei. Bei einem durchschnittlich großen Versicherer liegt selbst mit hohem Vertriebsanteil über die Ausschließlichkeit die Produktdurchdringung beim Kunden im Schnitt bei ungefähr 2,3 bis 2,4 – wenn sie gut ist. Das ist nicht viel.

Wenn wir über die Digitalisierung der Branche sprechen, wo steht die Versicherungswirtschaft?
Voss: Das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Digitalisierung liegt sicher bei über 90 Prozent, die ersten fertigen Umsetzungen finden wir vielleicht bei 30 Prozent des Marktes. Also noch ein weiter Weg für die Branche. Weil es zu viele Altsysteme und Umsysteme gibt, die entsprechend noch integriert, bzw. auf lange Sicht migriert und abgeschaltet werden müssen. Die Herausforderung ist, die entsprechenden Umsysteme mit dem neuen Hauptsystem so zu verbinden, dass es dann beispielsweise eine saubere Schadensbearbeitung im operativen Service gibt.

Die Komplexität ist nicht der Prozess an sich – die Komplexität liegt vielmehr darin, einen sauberen Prozess so digital abzubilden, dass in einer Übergangszeit entsprechende Altsysteme immer noch bedient werden können weil der Kunde ein Unterbrechung weder versteht noch akzeptiert. Das ist momentan die größte Herausforderung für die meisten Versicherer. Natürlich gibt es auch Anbieter am Markt, die den Versicherern Einzellösungen passend auf ihr Altsystem maßgeschneidert anbauen. Nur was passiert dann.

Es wird wieder vorrangig genau auf das eine veraltete System des Versicherers digitalisiert. Daran krankt die Digitalisierung der Branche, denn das Problem wird nicht an der Wurzel gepackt. Es wird an Symptomen laboriert. Die Folge: Es bleibt bei individuellen Insellösungen. Der Digitalisierungsanbieter erhält vom Versicherer einen Anforderungskatalog: Die Automatisierung soll im Rahmen der Digitalisierungsstrategie von 20 auf 70 Prozent steigen und der entwickelt dann den passenden Digitalisierungspfad für die entsprechenden Systeme, die eben da sind, ohne das gesamte Konstrukt zu hinterfragen.

„Die Frage, die sich der Markt stellen muss, ist, ob wir in der Erbringung der Servicedienstleistungen nicht eine gewisse Standardisierung benötigen“Die Frage, die sich der Markt stellen muss, ist, ob wir in der Erbringung der Servicedienstleistungen nicht eine gewisse Standardisierung benötigen“

Stephen Voss

Die Frage, die sich der Markt stellen muss, ist, ob wir in der Erbringung der Servicedienstleistungen nicht eine gewisse Standardisierung benötigen, die das gewünschte Ergebnis immer im selben Prozess erzielt, damit wir über die Standardisierung zu einer einheitlichen Effizienz kommen. Kein Automobilhersteller weltweit produziert seine Schrauben selbst, er bestimmt aber den Standard, den er erwartet.

Wissen die Unternehmen eigentlich, wo sie in der digitalen Evolution stehen?
Voss: Das Bewusstsein ist durchaus vorhanden. Aber oft genug hören wir im Markt: „Unsere IT macht das schon.“ Fraglich ist, ob in dem Moment, in dem das Projekt ausgeliefert wird, der Zug nicht schon längst abgefahren ist. Eigentlich müsste die Frage lauten, ob das Bewusstsein da ist, dass die Zeit drängt.

Lassen Sie uns zum Abschluss einen Ausblick wagen. Was kommt in den kommenden Jahren auf die Branche zu?
Voss: Bis 2030 werden sich die Themen in den Sparten nicht grundlegend verändert haben. Wir werden sicherlich in Zukunft vor allem in der Sachversicherung neue Produkte sehen, die sich vermehrt auf einzelne Leistungen oder sogar Gegenstände beziehen. So werden Teile der Hausratversicherung gebündelt stationär oder online an das jeweilige Produkt angepasst vertrieben – die Fahrradversicherung ist so ein Thema. An der Digitalisierung führt aus unserer Sicht kein Weg vorbei. Denn den steigenden Serviceanforderungen der Kunden müssen wir mit immer weniger Fachpersonal begegnen. Einfache wiederkehrende Prozesse im Betrieb oder im Schaden müssen zwingend automatisiert werden, um Kapazitäten für qualifizierte Themen freizusetzen. Der Vertrieb wird sich sicherlich in eine Richtung verändern, dass einfache Produkte künftig vermehrt automatisiert durchlaufen.

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