Italien gehört zweifellos zu den europäischen Ländern, die von der Covid-19-Pandemie besonders betroffen waren und sind. Die letzte Regierung hat diesem Sturm jedoch getrotzt und es geschafft, ein 190 Milliarden Euro schweres Konjunkturprogramm innerhalb eines europäischen Finanzierungsrahmens auf die Beine zu stellen. Auch bei der Bekämpfung der Folgen des Krieges in der Ukraine hatte sich die letzte Regierung pragmatisch und fortschrittlich gezeigt. Dennoch zerbrach die Koalition der nationalen Einheit am 21. Juli dieses Jahres.
Gründe für den Sturz der Regierung
Man kann der letzten Regierung kaum vorwerfen, keine Fortschritte gemacht zu haben. Nach Schätzungen des ISTAT (Nationales Institut für Statistik) war die Wirtschaft im zweiten Quartal 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 4,6 % gewachsen. Dies war das sechste Wachstumsquartal in Folge und das stärkste Wachstum unter den G7-Ländern. Im gleichen Zeitraum sank die Arbeitslosenquote auf ein Zehnjahrestief von 8,6 %.
In diesem Zusammenhang mag es sehr verwundert haben, dass eine solche Regierung zurücktritt. Andererseits haben tief verwurzelte Wahl- und Parteiinteressen den Auftrag der Governo unità nazionale[1]von Beginn an untergraben.
Die wirtschaftlichen Risiken der politischen Instabilität
Die Richtung, die die neue Regierung einschlagen wird, ist ungewiss. Zwar wurden in jüngster Zeit erhebliche Fortschritte auf dem Weg zu mehr wirtschaftlichem Wohlstand gemacht, doch die starke Abhängigkeit Italiens von Erdgasimporten verschärft das Problem der steigenden Energiepreise. Ein weiterer kritischer Faktor ist die Entwicklung der Löhne: Nach Angaben der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) sind die Löhne in Deutschland und Frankreich zwischen 1990 und 2020 real um ein Drittel gestiegen, während sie in Italien stagnierten. Folglich werden Inflation und Energieknappheit die inzwischen drittgrößte Volkswirtschaft Europas noch stärker treffen.
NextGenerationEU: Die Bedingungen für den Zugang zum Konjunkturprogramm
Bei der Beurteilung der politischen Lage bzw. der Richtung, die eine künftige italienische Regierung einschlagen wird, dürfen die Bedingungen nicht vergessen werden, an die die EU die Auszahlung von Mitteln aus dem “NextGenerationEU” Wiederaufbaufonds geknüpft hat. Hierzu gehören ein neues Wettbewerbsgesetz, eine Steuerreform und eine Überarbeitung von Teilen des Rechtssystems mit dem Ziel, Gerichtsverfahren zu beschleunigen, die zu den langsamsten in Europa gehören.
Die guten Zahlen für das zweite Quartal dieses Jahres waren ein gutes Zeichen, aber sie sollten nicht darüber hinwegtäuschen, wie wichtig das nationale Konjunkturprogramm für die Zukunft des Landes ist. So wuchs das italienische Bruttoinlandsprodukt (BIP) zwischen 1999 und 2019 nur um 7,9 Prozent – verglichen mit einem Wachstum von über 32 Prozent in Frankreich und einem Wachstum von fast 44 Prozent in Spanien im gleichen Zeitraum.
Auf der anderen Seite gibt es aktuelle Probleme, deren Ursachen zwar nicht in Italien liegen und die auch nicht auf Italien beschränkt sind, die für das Land jedoch eine größere Herausforderung darstellen als für viele andere. Der Klimawandel ist zum Beispiel ein solcher Bereich, in dem Italien besonders anfällig ist. Während Hitzewellen oder schwere Stürme in vielen Gebieten Europas zunehmend problematisch sind, ist Italien aufgrund der Anzahl der Menschen, die in Gebieten leben, die Umweltproblemen in überdurchschnittlichem Maß ausgesetzt sind, unverhältnismäßig stark betroffen.
Der Kapitalmarkt: jüngste Entwicklungen und die Bedeutung von Reformen
Was die Marktkapitalisierung im Verhältnis zum BIP betrifft, so hat Italien nach OECD-Angaben mit einem Anteil von 31 % schlechter abgeschnitten als die anderen großen europäischen Volkswirtschaften. Allerdings würde wohl die Mehrheit der entwickelten Volkswirtschaften Europas von sich selbst behaupten, dass die „Kapitalmarktkultur“ in ihrem jeweiligen Land unterentwickelt ist.
Größe und Reife des Kapitalmarktes eines Landes korrelieren jeweils mit seinem nationalen Rentensystem. Länder mit kapitalgedeckten Rentensystemen weisen eine hohe Marktkapitalisierung auf, wie etwa die USA oder das Vereinigte Königreich. Im Gegensatz dazu sind in Ländern mit umlagefinanzierten Rentensystemen die Kapitalmärkte tendenziell weniger entwickelt.
Interessanterweise gibt es, obwohl die Rentensysteme weitgehend unverändert geblieben sind (oder vielleicht gerade deshalb), eine weitere Bewegung auf dem italienischen Kapitalmarkt. Einem Bericht der Consob (Nationale Kommission für Unternehmen und die Börse) zufolge hat sich der Anteil der Finanzanlagen italienischer Haushalte in den letzten zehn Jahren zwar insgesamt nicht erhöht – die Verteilung über die Anlageklassen hat sich jedoch deutlich verändert. Der stetige Rückgang bei Anleihen wurde durch einen Anstieg bei Investmentfonds, ausländischen Aktien und Derivaten ausgeglichen, was als starkes Signal für eine progressive Entwicklung gewertet werden kann.
Anreize für Steuererleichterungen
Es gibt viele Fiskalmaßnahmen, die die Kapitalmarktaktivität fördern können und Italien hat hier mehr getan al viele andere europäische Länder. Im Jahr 2017 wurden individuelle Sparpläne (PIR) für Investoren eingeführt, um Anreize für Investitionen in KMU zu schaffen. Im Rahmen dieses Plans sind Investitionen in PIR-Produkte mindestens fünf Jahre lang von der Kapitalertragssteuer und der Erbschaftssteuer befreit. Diese Initiative ist sicherlich ausbaufähig und könnte auch von anderen europäischen Ländern übernommen werden.
Am Scheideweg zwischen Wahlen und Reformen: Welchen Weg wird Italien einschlagen?
Zieht man den von Spectrum Markets monatlich ermittelten Investorensentiment-Indikator SERIX heran, so war dieser nach starken Schwankungen im August zuletzt mit 99 Punkten nahezu neutral. Angesichts der Größe und Bedeutung Italiens im Staatsanleihensektor tendenziell sicher kein schlechtes Zeichen.
Allein vor dem Hintergrund budgetärer Grenzen wird keine politische Partei ihre Wahlversprechen erfolgreich umsetzen können, wenn sie zu weit oder zu lange vom eingeschlagenen Reformkurs abweicht. Ich denke, dass Italien seinen Reformkurs beibehalten wird und nicht die Absicht hat, jetzt einen Rückschritt zu machen.