Nachhaltigkeit: Ist der Kunde weiter als der Vertrieb?
Und noch ein Trend wurde besonders im LV-Bereich im Laufe des Jahres 2022 erkennbar: Das Thema Nachhaltigkeit. „Für einen Großteil der Versicherungsunternehmen hat das Thema einen sehr hohen Stellenwert. Einmal durch die Verpflichtung zur Offenlegung und zum anderen erhöht die Nachfrage nach nachhaltigen Produkten und nachhaltig agierenden Unternehmen den Stellenwert in den Versicherungsunternehmen. Der Druck vom Markt wird zunehmen und damit auch die Relevanz innerhalb der Unternehmen“, bestätigt Pascal Schiffels, Geschäftsführer des Ratinghauses Morgen & Morgen.
Mit Umsetzung der IDD-Richtlinie zum 2. August kommt keine Vermittlerin, kein Vermittler, in der Beratung mehr am Thema Nachhaltigkeit vorbei. Allerdings ist die Komplexität im Markt immer noch sehr hoch und das scheint den Vertrieb zu fordern.
Denn das Feedback, dass man von Vermittlern bekomme, sei eher verhalten, sagte Dr. Winfried Gaßner, Leiter des Produktmanagements der WWK, gegenüber. Vom Berater werde erwartet, dass er von heute auf morgen zur Taxonomieverordnung oder über Mindestquoten und Ausschlüsse informiere. „All das zeigt eine sehr hohe Komplexität. Und damit muss der Vermittler zurechtkommen“, so Gaßner.
Eine Ende Oktober 2022 veröffentlichte Studie des Beratungsunternehmens EY zum Umgang der Versicherungsbranche mit der ESG-Beratungspflicht bestätigt Gaßners Einschätzung. Danach führten 78 Prozent der Vermittler bei ihren Kundinnen und Kunden noch keine Präferenzabfrage zur Nachhaltigkeit durch. In fast allen Gesprächen (95 Prozent) wurde der Wissensstand zum Thema Nachhaltigkeit nicht abgefragt und rund zwei Drittel (65 Prozent) der zugesandten Unterlagen enthielten keine Informationen, zu nachhaltigen Produkten, geschweige denn Klassifizierungen.
„Wenn es keine ESG-konformen Anlageprodukte zu vertreiben gibt oder der Anbieter keine entsprechende Klassifizierung vorgenommen hat, hängen die Vermittler natürlich in der Luft“, sagt Patrick Pfalzgraf, Partner bei EY EMEIA Financial Services. Laut dem Experten geht die Gesamtproblematik allerdings tiefer: Häufig seien die Kenntnisse auf der Vermittlerseite für eine dezidierte Nachhaltigkeitsberatung noch nicht ausreichend. Zudem fehlt es an geeigneter Unterstützung durch strukturierte Prozesse in der Omnikanalberatung; obendrein seien Tools und klare Leitfäden oft Mangelware. Das schlage dann irgendwann auch auf die Motivation der Beraterinnen und Berater durch.
„Der benötigte Inhalt und Umfang der Präferenzabfrage ist in der IDD festgelegt und der Türöffner für den weiteren Gesprächsverlauf im ESG-Beratungsprozess. In etwa vier von fünf Fällen kommt es aber erst gar nicht dazu – das Thema Nachhaltigkeit wird, offenbar aus verschiedenen Gründen, eher vermieden. Dass ein Großteil der Branche geltendes Gesetz nicht einhält, ist sicherlich kein Vorsatz. Es zeigt aber, wie viele Hürden die Branche auch zwei Monate nach dem Tag X noch nicht überwunden hat. Und das trotz eines hohen vertrieblichen Potenzials und der hehren Bedeutung des Themas Nachhaltigkeit“, bilanzierte der EY-Experte.
Dennoch wird das Thema Nachhaltigkeit weiter an Bedeutung gewinnen, zeigt sich WWK-Mann Gaßner überzeugt. Spätestens Anfang Januar 2023.