Das Hochwasser in Süddeutschland Anfang Juni ist verheerend für Kunden und bedeutet aufwändige Schadenbearbeitungen für Versicherungsunternehmen. In der Regel nimmt ein Angestellter die Schadenmeldung entgegen, bearbeitet sie und schiebt die Abwicklung des Schadenfalls an. Das ist ein standardisierter Prozess – und damit wie geschaffen für technische Hilfsmittel wie etwa die Künstliche Intelligenz (KI).
Viele Versicherungsunternehmen haben das bereits erkannt. 59 Prozent von ihnen sehen in der Analyse von Schadenschilderungen das größte Potenzial der KI-Technologie, wie eine aktuelle Umfrage von WAVESTONE und Google Cloud ergeben hat. Allerdings setzt gerade einmal jedes achte Unternehmen KI an dieser Stelle bereits ein. In anderen Bereichen sieht es mit der KI-Affinität der Assekuranz nicht viel besser aus. Woran liegt das? Und kann KI den Versicherungen nicht vielleicht doch helfen? Was sind die größten Probleme bei der Transformation? Und wie können die Unternehmen sie lösen?
Der Schadenfall ist nur ein Beispiel von vielen dafür, wie KI die Arbeit in der Assekuranz erleichtern kann. Zwei Drittel der befragten Unternehmen haben den Einsatz der Technologie beim Analysieren von Schadenschilderungen zumindest schon in Planung. Deutlich weiter sind die Versicherungen jedoch bei der Verarbeitung von Rechnungsdaten. Eine ebenso repetitive Aufgabe, bei der KI unterstützen kann. Das meinen immerhin 47 Prozent der befragten Versicherungen, was Platz zwei im Ranking potenzieller use cases bedeutet. Vier von zehn Assekuranzen haben die Technologie an dieser Stelle sogar schon im Einsatz. In keinem anderen Anwendungsbereich ist der KI-Nutzungsgrad derartig hoch. Noch dazu bereiten 35 Prozent der befragten Firmen hier KI-Anwendungen vor. Gerade einmal jedes vierte Unternehmen setzt sich bei der Rechnungsverarbeitung noch nicht mit KI auseinander.
Der drittwichtigste KI use case für Versicherungen ist die Vertragsanalyse, also das automatische Extrahieren von Entitäten aus einem Fließtext. Aktuell setzt bereits jeder vierte Versicherer Künstliche Intelligenz in der Vertragsanalyse ein. Etwas mehr als die Hälfte der Unternehmen bereitet den Einsatz zumindest vor. Ein Viertel der befragten Betriebe plant allerdings noch gar keinen Einsatz von KI.
Viele Datenquellen, aber keine Strategie
Die Gründe für die noch zurückhaltende Verwendung von KI sind vielfältig. Die Versicherungswirtschaft steht bei der Umsetzung ihrer KI-Projekte vor einer Vielzahl von Herausforderungen. Dazu zählen die eigene IT-Architektur sowie eine unzureichende Datenqualität. Vier von zehn Versicherern nennen diese beiden Aspekte als Hauptursache dafür, dass die Umsetzung ihrer KI-Vorhaben ins Stocken gerät. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die Unternehmen beispielsweise auf die Einbindung externer Daten verzichten. Allerdings handelt es sich dabei in der Regel um Geodaten oder Wetterdaten (jeweils 76 Prozent), die bei der Policierung von Gebäude- oder Elementarschadenversicherungen helfen können. Darüber hinaus werden auch Datendienstleister (76 Prozent) als Quelle angezapft, um bessere Angebote erstellen zu können. Jeder dritte Versicherer setzt zudem auf ESG-Daten. Das lässt sich allerdings auch mit der Tatsache begründen, dass die Reportingpflichten beim Thema Nachhaltigkeit strenger sind.
Mit zunehmender Digitalisierung stehen den Unternehmen jedoch deutlich mehr Datenquellen zur Verfügung. Zum einen verfügt die Assekuranz allein aufgrund ihres Geschäftsmodells im Vergleich zu anderen Branchen bereits heute über sehr viele Kundeninformationen, die jedoch die Herausforderung mit sich bringen, oft veraltet zu sein. Zum anderen wächst der Bestand dieser wertvollen Daten durch die Vernetzung von immer mehr Verbrauchergeräten wie Fahrzeugen, Smart Speakern, Fitnesstrackern oder Smartphones stetig an. Dennoch binden die Unternehmen Daten aus jenen innovativen Quellen wie beispielsweise Social Media (29 Prozent), Sensoren (29 Prozent) oder Wearables und mobilen Endgeräten (12 Prozent) kaum ein. Woran liegt das?
Fehlendes Fachwissen und Fachkräftemangel
Vereinfacht gesagt, haben die Unternehmen in vielen Bereichen Lücken: allen voran in der Datenstrategie. 41 Prozent der Versicherer haben noch keine entwickelt. Darüber hinaus mangelt es an Know-how, Budget und regulatorischem Verständnis. So beklagen jeweils 29 Prozent der Versicherer fehlende Datenexpertise, eine fehlende Datenstrategie und eine mangelnde Datenverfügbarkeit. Auch fehlendes technisches Wissen (24 Prozent) ist ein nicht zu vernachlässigender Faktor in den Betrieben. Weniger große, aber nicht zu unterschätzende Hürden sind aus Sicht der Befragten fehlende Budgets (18 Prozent), fehlende Data Ownership (12 Prozent) sowie der Respekt vor IT-Fusionen, der Regulatorik und den internen Gremien (jeweils 6 Prozent).
Die gute Nachricht: Für all das gibt es Lösungen. So können Versicherer das fehlende Know-how in zwei Richtungen ausgleichen: Zum einen, indem sie die eigene Belegschaft fit für den Umgang mit intelligenten Systemen machen. 29 Prozent der Unternehmen haben diesen Weg bereits eingeschlagen und setzen auf die Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden, um ihren KI-Reifegrad zu erhöhen. Zum anderen gilt es, dem Fachkräftemangel zu begegnen. Eine besondere Herausforderung, denn im Kampf um junge Talente werden die Versicherer künftig nicht mehr nur mit anderen Versicherungsunternehmen, sondern auch mit Technologieunternehmen konkurrieren. Dies wird vor allem eine Aufgabe für das Employer Branding, denn oft haben die Arbeitgebermarken von Versicherungen ein angestaubtes Image und tun sich daher schwer, gegen junge, hippe Technologieunternehmen zu bestehen.
Viele Klassiker, aber kaum KI
Hier wie dort helfen den Versicherungen konkrete Anwendungsfälle. Zum einen stärken sie die Akzeptanz der Technologie bei den Mitarbeitenden, zum anderen erhöhen sie die Attraktivität der eigenen Arbeitgebermarke. Umso erfreulicher ist es, dass so viele Versicherer die Technologie bereits ausprobieren oder ihren Einsatz zumindest planen.
Allerdings zeigt sich, dass sie bei der Optimierung durch intelligente Prozesse derzeit eher klassische Methoden im Blick haben. Die wichtigsten Ansätze für Automatisierung im Versicherungswesen sehen sie beispielsweise bei der Robotic Process Automation (82 Prozent) oder in Workflow-Management-Systemen (71 Prozent). KI-Methoden wie etwa Natural Language Processing (65 Prozent), Predictive Analytics oder Process Mining (jeweils 53 Prozent) finden sich dagegen erst auf den Plätzen dahinter. Generative KI oder Entscheidungen auf Basis von maschinellem Lernen für die Klassifikation von Vorgängen sind mit jeweils sechs Prozent Zustimmung kaum ein Thema.
Gerade in diesem Bereich schlummert jedoch enormes Potenzial, weil es die Mitarbeitenden von lästigen Aufgaben entlasten und so Kapazitäten schaffen kann für die wirklich wichtigen Aufgaben, wie zum Beispiel die Kundenberatung. Auch in diesem Tätigkeitsfeld kann KI unterstützen, etwa in Form eines Chatbots oder eines Vergleichsrechners. Immerhin plant fast die Hälfte der befragten Unternehmen, KI künftig auch im Sales-Bereich einzusetzen und das Contact Center vom Cost- zum Profit Center zu entwickeln. Selbst Beratungsgespräche im Metaverse sind durchaus denkbar. Versicherer schließen sie derzeit mit 76 Prozent Ablehnung aber deutlich aus. KI kann den Menschen eben (noch) nicht überall unterstützen.
Zu den Autoren: Dr. Annika Bergbauer ist Tech-Ökonomin, Datenexpertin und arbeitet als Senior Managerin bei Wavestone; Oliver Hein ist Head of Insurance Germany bei Google Cloud.