Nach 47 Jahren Mitgliedschaft haben die Briten die europäische Großfamilie verlassen. Aber wie gehen EU und Großbritannien nach einer Übergangszeit vor allem handelsseitig miteinander um? So manch ein Beobachter meint, dass die einsamen Briten im Beziehungspoker gegen die große EU mit 27 Staaten ebenso untergehen, wie die Titanic nach der Kollision mit dem Eisberg. Doch sind die Trümpfe wirklich so einseitig zugunsten der EU verteilt?
Nie hat der britische Löwe lauter gebrüllt
Tatsächlich scheint Großbritannien ohne Handelsabkommen mehr zu verlieren zu haben. Bei einem No Deal ist für britische Unternehmen der Zugang zum Binnenmarkt verschlossen oder sie müssen beim Export gemäß den Regeln der Welthandelsorganisation höhere als die bisherigen EU-Zölle bezahlen.
Trotzdem will Premierminister Boris Johnson gegen Europa klare Kante zeigen. Das Schicksal seiner an Europa gescheiterten Amtsvorgängerin Theresa May will er nicht erleiden, die von den Auseinandersetzungen mit Brüssel politisch aufgefressen und dann auch noch von ihren eigenen Abgeordneten gemeuchelt wurde. Er will in die Fußstapfen mindestens der Eisernen Lady Margaret Thatcher, wenn nicht sogar in die Winston Churchills, treten.
Also setzt Johnson auf maximale Provokation und droht selbst mit einem No Deal. Bis Ende des Jahres und ohne jede Verlängerungsoption will er einen Freihandelsvertrag mit der EU schließen. Das wäre selbst für alle Helden der britischen Geschichte inklusive Lord Nelson nicht zu schaffen. Der Handelsvertrag der EU mit Südamerika hat 14 und der mit Kanada acht Jahre gebraucht. Und Johnson scheint besonders viel Spinat gegessen zu haben und stark wie Popeye zu sein. Er will sich keinem wirtschafts-, steuer-, subventions-, arbeits- und umweltpolitischem EU-Standard beugen. Nein! Doch! Ohh!
Johnson nutzt die Kriegslist der „Flucht nach vorne“. Er droht Brüssel mit einem „Singapur an der Themse“, einem Wirtschaftsstandort, in dem für Investoren über Steuer-, Sozial-, Regulierungs- und Umweltdumping sowie lockerste Geldpolitik Milch und Honig fließen. Wenn die britischen Standortvorteile die Handelsnachteile mit der EU bei einem No Deal überkompensieren, wäre es für ausländische Unternehmen dennoch attraktiv, im Vereinigten Königreich zu investieren.
Angriff ist die beste Verteidigung. Zudem könnte Großbritannien außereuropäische Unternehmen bei seinen Importzöllen besserstellen als die aus der EU. Der Verlust an britischen Marktanteilen würde vor allem die deutsche (Export-)Wirtschaft angesichts ihrer auch wirtschaftspolitisch bedingten Strukturschwächen zur Unzeit treffen. In der Tat ist der US-Präsident sehr an einem Handelsabkommen mit seinem BBB – Best Buddy Boris – interessiert. Mit dem britischen Handels-Hebel könnte er noch kräftiger Druck auf Brüssel ausüben, ihm bei einem transatlantischen Handelsabkommen maximal entgegenzukommen.
Hat nicht schon Trump am Beispiel China bewiesen, wie man einen Zollkrieg führt? Wieso sollte sich Johnson nicht am US-Präsidenten orientieren? Ähnlichkeiten zwischen Trump und Johnson sind doch schon rein äußerlich nicht zufällig.
Nicht nur Amerika, sondern auch andere Länder haben bereits ihre Hände Richtung Insel ausgestreckt. Und die Briten haben sie – taktisch klug – nicht zurückgewiesen. So darf sich Huawei am Ausbau der superschnellen 5G-Mobilfunknetze in Großbritannien beteiligen. Und Chinesen sind wie Elefanten. Sie vergessen nicht die faule Nuss in Form der vielfachen Kritik am chinesischen Telekomausrüster, aber auch nicht die wohlschmeckende. Die Briten haben in Peking einen gut. Bei Auseinandersetzungen zwischen London und Brüssel weiß Peking sein Wohlverhalten richtig einzusetzen.
David Boris gegen Goliath Brüssel
Innenpolitisch hat Johnson ohnehin einen Vorteil. Im britischen Unterhaus verfügt er über eine Mehrheit, die man bei uns nur aus den besten Zeiten der CSU in Bayern kennt. Diese Durchsetzungsstärke ist ein Vorteil gegenüber der EU, die auf dem Papier zwar ein mächtiger Verhandlungsgegner ist. Doch fehlt es den 27 Staaten an Zusammenhalt. Sie sind in vielerlei Hinsicht gespalten und entscheidungsschwach. Selbst nationale Regierungen sind so instabil wie Wackelpudding. Und auch die Bundesregierung ist eine Beziehung ohne Freude. In Berlin herrscht Hochkonjunktur bei Paartherapeuten.
Sollte der britische Abgang am Ende insgesamt ein Erfolg werden, könnte auch in anderen EU-Ländern so mancher schlafende Exit-Hund geweckt werden. Man weiß ja auch nicht, ob der Exodus von Meghan und Harry aus dem britischen Königshaus ein Einzelfall bleibt. Im Extremfall ist der finale Brexit der erste fallende Dominostein in der EU. Vor diesem Hintergrund wird Boris Johnson nicht die Rolle des um Gnade flehenden Bittstellers annehmen.
Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Aber wer ist das?
Johnsons Shakespeare ähnliche Dramen-Diplomatie gegenüber der EU ist zwar gut gespielt, aber nicht unbedingt für bare Münze zu nehmen. Insgeheim würde Johnson gerne mit der EU verbandelt bleiben, was ihm ja doch viele (Wirtschafts-)Vorteile bietet. Ein Abgang der EU-freundlichen Schotten könnte übrigens aus Great schnell Little Britain machen. Auch ist Johnson klar, dass Amerikaner und Chinesen keine selbstlosen Gutmenschen sind, sondern britisches Holz gerne zum Kochen ihres ganz eigenen Süppchens verwenden.
Im Stillen kennt aber auch die andere Seite – Brüssel und selbst die klassischen Briten-Basher aus Frankreich – die wirtschaftlichen und geostrategischen Nachteile einer Grabenbildung im Ärmelkanal. Ginge Großbritannien endgültig für Europa verloren, würde ebenso der geostrategische Einfluss der EU im Wettstreit mit den USA, China und Russland sinken. Immerhin ist die britische Volkswirtschaft so stark wie die 19 kleinsten EU-Staaten zusammen. In ordnungspolitischen und Stabilitätsfragen waren die Briten ohnehin für Deutschland oft genug Verbündete, ja sogar Blutsbrüder.
Vor diesem Hintergrund sollten abseits der öffentlichen, auf beiden Seiten gespielten Sturheit und Selbstgerechtigkeit unter dem Strich unverkrampfte Verhandlungen über das zukünftige EU-britische Verhältnis möglich sein. Wenn am Ende des Jahres nur ein Rumpfvertrag steht, der lediglich die Grundzüge der künftigen Handelsbeziehungen regelt, ist dies völlig in Ordnung. Warum muss denn überbürokratisch alles bis auf die dritte Nachkommastelle fixiert sein? Wenn mehr Freiräume und Flexibilität beidseitig des Ärmelkanals gelten, würde der bürokratische Überbau zugunsten der Marktwirtschaft gelockert.
Dann könnten später weitere Länder ins europäische Boot geholt werden, die nicht die gleiche EU-Vereinsuniform ohne Rücksicht auf ihre eigenen wirtschaftlichen oder politischen Modestile tragen wollen. Diese fehlende modische Beinfreiheit wird ja auch vom ein oder anderen Stammmitglied bemängelt.
Am Ende hätte der widerspenstige Boris Johnson Europa sogar noch einen Gefallen getan. Beide Seiten könnten zuletzt am besten lachen.
Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank. Mit Wertpapieranalyse und Anlagestrategien beschäftigt er sich seit Abschluss seines betriebswirtschaftlichen Studiums 1990. Halver verfügt über langjährige Erfahrung als Kapitalmarkt- und Börsenkommentator. Er ist aus Funk und Fernsehen bekannt und schreibt regelmäßig für Cash.
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