Was passieren kann, wenn eine Künstliche Intelligenz (KI) außer Kontrolle gerät, kann man in „Dead Reckoning Teil 1“ sehen, der neuesten Folge der „Mission Impossible“-Reihe. Darin kämpft Tom Cruise als Superagent Ethan Hunt ausnahmsweise mal nicht gegen einen analogen Schurken, sondern gegen die „Entität“ – eine KI, die so fortschrittlich ist, dass sie ein eigenes Bewusstsein entwickelt hat und in der Lage ist, digitale Prozesse zu manipulieren.
„Sie verzerrt alle digitalen Informationen, mit denen sie in Kontakt gerät. Nach einer Infektion kann nichts, was digital aufgezeichnet, gespeichert oder übertragen wurde, noch als vertrauenswürdig gelten“, klären hochrangige Geheimdienstler ihren Vorgesetzten im Film auf. Anfänglich habe sich die „Entität“ auf Nachrichten und soziale Medien konzentriert. Doch dann seien die Angriffe über Nacht um das zehntausendfache angestiegen und hätten sich exponentiell verbreitet – was darauf schließen lasse, dass sie mittlerweile empfindungsfähig ist. „Sie wollen mir sagen, dass das Ding einen eigenen Willen hat?“, fragt der Geheimdienstchef entgeistert. Die verstörende Antwort: „Was immer ihr ultimatives Ziel ist: Wir sind außer Stande, sie aufzuhalten. Die Entität wird genau wissen, wie sie unsere Stärken unterminieren und unsere Schwachstellen auszunutzen kann.“ Nun ist es an Tom Cruise, sie zu zerstören.
Ganz so dramatisch wie in dem Agententhriller stellt sich die Situation im Finanzvertrieb natürlich nicht da. Doch auch dort stellen sich viele Maklerinnen und Makler gerade die Frage, ob der Siegeszug der KI noch aufzuhalten ist – und was das alles für ihre Jobs bedeutet. Erst kürzlich hat der Vermittlerverband AfW mittels einer Online-Befragung von mehr als 1.100 Vermittlern ein Stimmungsbild ermittelt. Demnach hat der größte Teil der Vermittler noch keine klare Meinung, inwieweit KI in ihr Berufsbild eingreifen und es verändern wird. Derzeit schätzt knapp die Hälfte (46 Prozent) die Auswirkungen von KI auf die eigene berufliche Zukunft als neutral ein. 28 Prozent sehen sie positiv, 18 Prozent negativ.
Auf die Frage, ob KI-Anwendungen wie ChatGPT künftig die menschliche Interaktion in der Finanzberatung ersetzen können, haben die Befragten hingegen eine klare Antwort: 61 Prozent glauben nicht daran, dass dieser Fall jemals eintreten wird. Für 8 Prozent ist das jedoch wahrscheinlich und jeder vierte Befragte hält es zumindest für möglich. 25 Prozent stimmten mit „vielleicht“. „Es scheint so, als wäre die Vermittlerschaft derzeit noch gelassen, was das Aufkommen der Künstlichen Intelligenz für ihren Beruf bedeutet“, sagt Frank Rottenbacher, Vorstandsmitglied des AfW. Allerdings lasse sich eben noch nicht klar übersehen, wie gut und vor allem wie schnell die KI-Tools Dienstleistungen am Kunden unterstützen oder in Teilen gar ersetzen können.
Gegenüber Cash. hebt Rottenbacher die Vorteile der Automatisierung im Vermittlerbüro hervor. „So kann eingehende Kommunikation – auch Schadensbearbeitung – perspektivisch via KI erledigt werden. Beratungsdokumentationen werden automatisiert erstellt, entsprechende Wiedervorlagen angelegt, Cross- oder Upselling-Signale des Kunden erkannt und entsprechend dem Vertrieb automatisiert übergeben. Datenbestände können durch KI nach Beratungsansätzen durchsucht und Kunden automatisiert kontaktiert werden. Auch eine hohe Erreichbarkeit via Chatbot wird deutliche Zeitpotenziale freisetzen“, erwartet er. Dies verlange strategische Entscheidungen der Vermittler, welche Tools sie von welchem Anbieter einsetzen werden. Diejenigen, die diese Vorteile nutzen, werden seiner Einschätzung nach wieder mehr Zeit für ihre Kunden haben. „Ist es nicht das, wonach die Branche seit Jahren ruft?“, fragt Rottenbacher.
„Bei mir bleiben da große Zweifel“
Auch Christian Glanz, Mitglied des Vorstands der Deutschen Vermögensberatung (DVAG), sieht bei den KI-Systemen viel Potenzial im Bereich der Automatisierung. „Standardprozesse und einfache Tätigkeiten lassen sich automatisieren, um Kapazitäten für komplexe, aufwendigere Aufgaben freizumachen. Nehmen wir als ein Beispiel den elektronischen Antrag, der bei uns den Papierantrag weitgehend abgelöst hat. Ohne diesen könnten wir die Menge des eingereichten Geschäfts administrativ inzwischen gar nicht mehr zeitnah abwickeln. Im Dezember letzten Jahres wurden beispielsweise an einem Tag über 18.000 Anträge eingereicht. Über den Papierweg wären über 300 zusätzliche Stunden vonnöten gewesen, um diese noch vor Jahresende zu erfassen – in dieser kurzen Zeit kaum realisierbar.“ Für Glanz ist aber klar, wo KI an ihre Grenzen stößt: „KI-Systeme können zwar große Mengen an Daten analysieren und auch Sprachsysteme kann man in begrenztem Maße einsetzen, aber sie können nicht individuelle Nuancen und Präferenzen berücksichtigen, die eine persönliche Beratung ausmachen. Und auch bei komplexen Serviceanliegen stoßen Sprachsysteme an ihre Grenzen. Spezifische rechtliche oder technische Informationen lassen sich kaum abbilden. Der direkte Kontakt bleibt hier einfach unschlagbar.“
Die DVAG setzt KI laut Glanz als digitale Unterstützung für ihre Vermögensberater ein. „Als wachsendes Unternehmen erreicht uns eine immer höhere Anzahl an Servicefragen. Daher ist eine KI-gestützte Hotline für unsere Vermögensberater eine enorme Entlastung. Denn sie haben wirklich Besseres zu tun, als in langen Hotline-Schleifen zu hängen. Gerade bei häufig gestellten Fragen wie zum Beispiel Passwortänderungen kommt die KI hier zum Zug. Bei komplexen Fällen setzen wir weiterhin auf die direkte Hilfe durch kompetente Mitarbeiter“, erläutert er. Eine weitere Anwendung, um die Vermögensberater bei administrativen Vorgängen zu entlasten, sei der DVAG-Mail-Helfer. „Dies ist ein Textgenerator, der sich den vielfältigen Möglichkeiten der aktuell zur Verfügung stehenden KI bedient. Hiermit können zum Beispiel Geburtstagswünsche und Anschreiben an empfohlene Kontakte individuell – mit ChatGPT im Hintergrund – generiert und versendet werden. Aber auch hier ist ein kurzer, persönlicher Blick durch den Bearbeiter auf das Schreiben sicherlich nicht verkehrt.“
KI als digitaler Assistent, der keine Bedrohung für den Berufsstand darstellt – Rottenbacher gefällt diese Vorstellung. Er erwarte nicht, dass KI-Beratungssoftware zu einer Abschaffung der Berater führen wird, sagt er. „Bei mir bleiben da große Zweifel, ob das wirklich so passieren wird, und ich sehe das auf absehbare Zeit nicht. Denn: Werden sich die für uns spannenden Zielgruppen wirklich komplett virtuell beraten lassen – insbesondere die vermögenden Zielgruppen ab 40/50? Wie schnell können komplexe Beratungsthemen durch KI individualisiert abgebildet werden? Kann eine KI die für ein Beratungsgespräch so wichtige Empathie entwickeln und auf zwischenmenschliche Signale gut eingehen und das notwendige Vertrauen schaffen? Wie reagieren die Kunden im Hinblick auf Datenschutz auf eine volldigitalisierte Beratung? Wie reagieren Kunden, die die Datenbasis der beratenden Software nicht einschätzen können? Kann die aktive Neukundenansprache durch KI funktionieren?“ Alle diese Fragen sprechen aus seiner Sicht für kompetente Berater, die den individuellen Kundenbedarf inhaltlich und emotional aufgreifen können.
Plansecur-Geschäftsführer Heiko Hauser teilt Rottenbachers Sichtweise: „KI ist sicherlich eine weitreichende Umwälzung. Aber überlegen Sie einmal, ob Sie die Frage nach Ihrer Altersversorgung inklusive biometrischer Risiken auf viele Jahrzehnte Ihres Lebens lieber mit einer KI oder mit einem Menschen besprechen wollen? Oder die Absicherung Ihrer Familie im Falle einer Berufsunfähigkeit oder gar im Todesfall? Oder alles, was Ihnen sonst noch in finanzieller Hinsicht wirklich wichtig ist?“ Die KI werde sich weiterentwickeln, aber die Lebenserfahrung, die Empathiefähigkeit, die Diskussion von Kundensituationen in einem Expertenkreis werde sie noch sehr lange nicht ersetzen können – wahrscheinlich niemals. Bei Plansecur werde KI bisher an den Stellen eingesetzt, wo es nicht um vertrauliche Daten geht. „Vor allem in Kommunikation und Marketing gibt es Anwendungen, die zu ersten Effizienzsteigerungen geführt haben. Darüber hinaus verfolgen wir die Entwicklungen der Technologie intensiv“, betont Hauser.
Der „Dunning-Kruger-Effekt“
Das tun auch Forschung und Lehre. So hat ein Team um Professor Lars Hornuf von der TU Dresden untersucht, ob und inwieweit KI-Tools wie ChatGPT bei der Anlageentscheidung beraten können. Um zu untersuchen, ob GPT-4 individuell zugeschnittene Portfolioempfehlungen geben kann, hat das Forscherteam insgesamt 48 hypothetische Anlegerprofile gesammelt. Bei den von GPT-4 vorgeschlagenen Produkten handelte es sich ausschließlich um kostengünstige ETFs, die von namhaften Vermögensverwaltern geführt werden. Als Vergleichsmaßstab dienten Portfoliovorschläge aus der automatisierten Finanzberatung eines etablierten US-amerikanischen Finanzberatungsunternehmens. Die Ergebnisse der Studie zeigen laut Hornuf, dass GPT-4 Portfoliovorschläge in ähnlichen Regionen und Anlageklassen macht wie professionelle Anlageberater. GTP-4 sei dabei auch in der Lage, die Risikotoleranz, den Anlagehorizont und das Alter des Anlegerprofils zu berücksichtigen. „GPT-4 wurde nicht spezifisch für die Finanzberatung trainiert, liefert aber dennoch sehr vernünftige Ergebnisse für diese Aufgabe ab“, fasst Hornuf die Ergebnisse der Studie zusammen.
Doch auch er glaubt nicht, dass Finanzberater künftig um ihre Jobs bangen müssen, weil die KI diese überflüssig machen könnte. „Empirische Untersuchungen aus anderen Bereichen, etwa der Medizin, deuten bisher darauf hin, dass KI für bestehende Mitarbeiter eher ein Partner als ein Konkurrent ist“, erklärt Hornuf gegenüber Cash. „Auch Finanzberater können von der Zusammenarbeit mit einer KI profitieren, etwa wenn Bereiche mit geringerer Wertschöpfung von der KI und Bereiche mit höherer Wertschöpfung vom Finanzberater übernommen werden. Beispielsweise kann die KI die Präferenzen der Kunden abfragen, während der Finanzberater möglicherweise in Zusammenarbeit mit einer anderen KI ein Portfolio zusammenstellt und anschließend Anleger berät.“
Die KI als nützlicher Assistent – auch für Hornuf ist das ein durchaus realistisches Szenario: „Ich würde dieser Einschätzung grundsätzlich zustimmen. Allerdings kann beispielsweise GPT-4 per se noch keine Investition tätigen. Der Aufbau und die Verwaltung eines Portfolios stellt für viele Anleger jedoch eine Herausforderung dar. Entweder ist noch mehr Automatisierung erforderlich oder der Finanzberater muss diese Aktivitäten auch weiterhin unterstützen.“ Die Meinung Rottenbachers und Hausers, dass KI grundsätzlich die Fähigkeit zur Empathie fehlt, teilt er allerdings nicht. „Anders als ein menschlicher Finanzberater wird die KI nicht müde, zum zehnten Mal zu erklären, warum ‚Wetten‘ auf einzelne Aktien keine gute Altersvorsorge sind“, betont er.
Unter psychologischen Gesichtspunkten könnte der Einsatz von KI sogar klare Vorteile haben. Hornuf vermutet, dass sich Investierende vor einem Roboter weniger als Experten ausgeben als vor einem Finanzberater. „Menschen tendieren dazu, mehr Vertrauen in ihre Kompetenz zu haben, je weniger sie tatsächlich über ein Thema wissen. Dieses Phänomen wird auch als ‚Dunning-Kruger-Effekt‘ bezeichnet. Gleichzeitig wissen wir, dass Menschen oft versuchen, ihr Selbstkonzept, beispielsweise als erfolgreicher Investor, aufrechtzuerhalten“, sagt er. Es sei denkbar, dass diese Phänomene vor allem in der Interaktion zwischen Menschen relevant sind. „Das heißt, ich kann einem Roboter möglicherweise besser meine Unwissenheit oder Inkompetenz eingestehen, weil er so programmiert werden kann, dass er die Fähigkeiten eines Menschen als Anleger nicht wertet. Das könnte es Anlegern ermöglichen, beim Investieren ein geringeres Risiko einzugehen, da sie sich nicht gegenüber einer anderen Person beweisen müssen oder weitere Fragen stellen können, wenn ihnen etwas unklar ist.“
Dennoch: Für den Beruf des Finanzberaters scheint KI (vorerst) keine unmittelbare Bedrohung zu sein. Um den Rest kümmert sich Tom Cruise.
Kim Brodtmann, Cash.