Die Coronapandemie begleitet uns seit über 18 Monaten. Wie hat sich das Auf und Ab auf die Bayerische ausgewirkt?
Gräfer: Nachdem der erste Lockdown spürbare Folgen hatte, haben wir überlegt, was die Auswirkungen auf der ökonomischen Seite, bei der Kapitalanlage und auf der vertrieblichen Seite sind. Und haben vorsorglich ein Hilfspaket für unsere Vertriebspartner aufgelegt. Wir haben die Kosten, die wir für ausgefallene Veranstaltungen wie die DKM oder andere Events eingespart haben – das ist ein relativ großer Kostenblock – Eins zu Eins haben wir stattdessen für eine temporäre Erhöhung von Provisionfaktoren genutzt.
Die Sorge war glücklicherweise völlig unberechtigt. Das Jahr 2020 und das erste Halbjahr 2021 sind vertrieblich viel besser gelaufen, als gedacht. Wir haben in nahezu allen Bereichen alle Pläne erfüllt. Zum Teil haben wir das Vorjahr sogar übertroffen.
Bei der Kapitalanlage haben wir nahezu keine spürbaren Einflüsse, weil wir uns 2019 im Wesentlichen von allen Aktienpositionen getrennt hatten. Nicht weil wir eine Glaskugel hatten, sondern die Kapitalanlagestrategie hinsichtlich der HGB-Bilanz beziehungsweise Solvency-II-Bilanz neu justiert haben.
Sie sagten gerade, dass Sie die Aktienpositionen abgebaut haben. Bereuen Sie das nicht vor dem Hintergrund der Entwicklungen im zweiten Halbjahr 2020. Zudem kritisiert auch die Kölner Ratingsagentur Assekurata die sehr zögerliche Aktienstrategie der Versicherer.
Gräfer: Assekurata sagt, die Versicherer sind bei Aktien zu konservativ in der Kapitalanlage. Wenn Sie unser Assekurata-Rating für die BL und BBV-L lesen, dann sind wir aus Sicht der Ratingagentur eine rühmliche Ausnahme bei der Kapitalanlagestrategie. Denn wir sind dort deutlich offensiver. Das merkt man an der Quote für Staats- und Unternehmensanleihen. Dort sind wir sehr zurückhaltend.
Mit einer hohen Solvenzquote kann man Marketing machen, aber keine Zinsversprechen erfüllen. Wir wollen eine Balance aus einer angemessen hohen Solvenzquote und auf der anderen Seite einer hohen Verzinsung. 2020 haben wir unseren Kunden sowohl bei der Run-off-Gesellschaft als auch bei der operativen Gesellschaft 5,2 Prozent geboten.
Das liegt definitiv nicht an einer defensiven Kapitalanlagestrategie. Unsere Immobilienquote liegt deutlich oberhalb des Marktes, zwischen 14 und 17 Prozent. Zudem sind wir bei Pfandbriefen und Hypothekendarlehen investiert, aber nicht im privaten Sektor. Das zeigt schon, dass da eine Menge Potenzial besteht. Aktien müssen mit 46 Prozent Eigenkapital hinterlegt werden. Immobilien nur mit 25 Prozent. Im Mittelpunkt steht immer: Was will ich erreichen? Und da passt zu einem Lebensversicherer die Immobilie besser als die Aktie.
Sie haben in die Digitalisierung investiert. Was waren denn die digitalen Stellschrauben, die letztlich dazu beigetragen haben, dass Sie erfolgreich waren. Was waren die radikalen oder besser die bedeutenden Veränderungen?
Gräfer: Bleiben Sie ruhig bei radikal. Sie haben ihr Büro im Dachgeschoß und es wäre uns vor drei Jahren nicht eingefallen, ein Interview in der virtuellen Form über ein Videokonferenztool zu führen. Obwohl die Technik vor drei Jahren bereits vorhanden war. Mein Arbeitsalltag hat sich in den vergangenen 18 Monaten radikal verändert.
Die Menge der Gespräche hat sich verdreifacht. Es gibt deutlich mehr Interaktion. Und das ist den meisten im Vertrieb auch so gegangen. Die Vermittlerinnen und Vermittler sind viel anpassungfähiger als vorhergesagt. Diejenigen, die diese Anpassung nicht mitnehmen und behaupten, ihre Kunden seien digital nicht gewillt, haben Unrecht. Meistens sind es nicht die Kunden, sondern die Berater.
Diejenigen, die sich umgestellt haben, haben einen Mehrwert erlebt. Wir haben für Kunden, die in wirtschaftliche Schwierigkeit gekommen sind, in der Pandemie Programme entwickelt und über die digitalen Kanäle ausgespielt. Und wir hatten nur einen geringen Beitragsabrieb. Vor einigen Jahren haben wir über unsere Tochter IS2 die digitale Unterschrift in der Branche eingeführt. Und dieses ist bei uns auch intern eingezogen. Früher hatten wir das nur im Vertriebsprozess genutzt.
Heute nutzen wir es für nahezu alle Unterschriften im Haus. Unterschriftenmappen gibt es kaum noch. Zudem haben wir das digitale Kundenkonto, dass wir erst 2021 bringen wollten, auf April 2020 vorgezogen. Mittlerweile nutzen das rund 100.000 unserer 1,1 Millionen Kunden. Diejenigen, die sich dafür entschieden haben, nutzen es sogar stärker als gedacht.
Wie gut setzt der Vertrieb die digitalen Mittel denn ein?
Gräfer: Gut 80 Prozent der Vermittler nutzen die digitalen Hilfsmittel. Der Rest tut sich eher schwer damit. In unserem Exklusivvertrieb liegen wir bei rund 90 Prozent Digitalisierungsbefürwortern. Das betrifft nicht nur die digitale Kommunikation, sondern auch die digitalen Beratungswerkzeuge. Zehn Prozent können sie nicht überzeugen.
Das ist natürlich ein Problem. Wir hatten Makler, die in der bAV tätig waren und jegliche Art digitaler Kommunikation ablehnen. Die hatten keinen Einbruch. Die hatten Null-Umsatz. Wer sich nicht umstellt, sortiert sich selber aus. Die 80 Prozent haben allerdings mehr Umsatz als früher. Sie überkompensieren die Umsatzrückgänge der anderen.
Zum 1. Januar sinkt der Höchsrechnungszins auf nur noch 0,25 Prozent. Welches Signal hat das für die Altersvorsorge und die Vorsorgebereitschaft?
Gräfer: Eigentlich gar keines. Es ist völlig egal, wie hoch der Rechnungszins ist. Es kommt künftig auf das Risikoportfolio des Kunden an. Wir haben eingangs über die Kritik von Assekurata gesprochen. Die gleiche Diskussion führe ich doch mit Ihnen als Kunde. Als 54-jähriger haben Sie für die Altersvorsorge nicht mehr viel Zeit. Und eine Garantie würde zu viel Rendite kosten.
Es braucht entweder einen extrem hohen Sparbeitrag, wenn sie nun einsteigen würden oder aber eine hohe Performance. Die Höchstrechnungszinsdiskussion wäre – wenn ich Ihr Berater und Sie mein Kunde wären – höchst irrelevant.
Sie hat eine Relevanz für statische völlig risikoaverse Anleger. In dem Fall müssten wir dann über die Vermittlervergütung sprechen. Für uns beide stellt sich die Frage der kapitalmarktorientierten Anlage nicht.
Viele Kunden möchten allerdings nicht progressiv anlegen, sondern agieren eher risikoavers. Das zeigt auch eine Studie des IVFP.
Gräfer: Ich glaube nicht, dass das stimmt. Ich bin 36 Jahre im Markt. Wenn ich Ihnen unser Produktgebirge zeigen würde, die Verträge, die wir verkaufen: Danach legen die Kunden in der Ablaufphase viel Wert darauf, möglichst lange eine garantierte Rente zu erhalten. Vor dem Hintergrund würde ich uns beiden in der Ansparphase keine Garantien mehr empfehlen.
Das heißt nicht, dass ich in der Rentenbezugsphase gleicher Meinung bin. Da machen durchaus garantierte Lösungen Sinn. Das tun die fondsgebundenen Policen über die Rentengarantiefaktoren. Da gibt es Anbieter mit Treuhänderklausel. Das haben wir nicht. Wir haben echte harte Garantiefaktoren. Insofern ist hier differenzierte Beratung so wichtig wie nie.
Online-Standard-Produkte sind hier meines Erachtens fehl am Platz. Dann können wir alle auch das gleiche Auto fahren. Alle das gleiche Haus bauen. Die Beratung ist hier absolut entscheidend. Ich vertrete die These, die Beratung ist wichtiger als der Tarif.
Wie viel Prozent ihrer Kunden setzen in der Anlagephase in der Altersvorsorge noch auf Tarife mit Garantiebausteinen?
Gräfer: Wir verkaufen Garantieprodukte noch in der betrieblichen Altersvorsorge und der Sterbegeldversicherung. In der privaten Altersvorsorge sind 90 Prozent der Kunden außerhalb der in der Ansparphase garantierten Produkte investiert.
Fakt ist doch, dass die Menschen von den gekannten Vorsorgepfaden runter müssen. Wie überzeugen Sie die Menschen, die immer noch auf Sicherheit setzen, von dem neuen Weg?
Gräfer: Ich überzeuge sie nicht. Ich zeige ihnen Handlungsalternativen. Ich kann ihnen alles bieten. Insofern entscheidet der Kunde. Mit Pangaea Life haben wir ein besonders spannendes Produkt. Eine Fondspolice, die in nachhaltige ökologische Projekte und künftig auch in nachhaltig ökologisches Wohnen investiert.
Die Performance liegt seit Auflage bei 7,1 Prozent. Oder man investiert in konventionelle Produkte und hat eine Performance von null. Das ist die Wahl. Das Geld unter dem Kopfkissen liegen zu lassen, wird wahrscheinlich dazu führen, dass es zwei Prozent pro Jahr an Wert verliert. Meine Aufgabe als Berater ist es, Handlungsalternativen aufzuzeigen, den Kunden wählen zu lassen. Es geht nicht darum zu überzeugen und den Kunden zu überrumpeln.
Vor dem Hintergrund der Garantiezinssenkung fordern Verbraucherschützer, die Riester-Rente zu beerdigen. Grüne und SPD fordern eine Bürgerversicherung. Und selbst die CDU präsentiert neue Pläne. Welche Signalwirkung geht hier für die staatlich geförderte private Altersvorsorge aus?
Gräfer: Die Branche registriert die Diskussionen, die Bevölkerung aber kaum. Die Riester-Rente ist für einen großen Teil der Bevölkerung eine sensationelle Altersvorsorge. Solange es die Förderung gibt, werden wir die Riester-Rente auch verkaufen. Wir bieten die Riester-Rente in diesem Jahr, anders als die Allianz, vollumfänglich ohne reduzierte Garantien an. Und wir werden auch im nächsten Jahr eine Riester-Rente ohne reduzierte Garantien anbieten.
Dann aber nur noch im Honorartarif. Der Vermittler erhält dementsprechend vom Kunden eine Beratungs-Fee. Es gibt die private Altersvorsorge, es gibt die bAV. Es gibt die Basisrente. Die FDP hat kürzlich die Immobilie als wichtigen Baustein für die Altersvorsorge in das Parteiprogramm aufgenommen. Ich halte diesen Ansatz für falsch. Es gibt viele Immobilienbesitzer, die sind über 80, haben ein eigenes Haus und bekommen eine Minirente.
Wenn dann das Dach neu gedeckt oder das Haus gedämmt werden muss, fehlt das Geld. Und das ist die Altersvorsorge? Immobilien sind Altersvorsorge, wenn sie zwei oder drei Wohnungen in Hamburg, in München oder Berlin besitzen. Das eigene Haus entlastet. Aber die Belastung durch Renovierung ist ebenso hoch wie die Entlastung durch die fehlende Miete.
Warum fährt die Politik die Riester-Rente gegen die Wand?
Gräfer: Die Riester-Rente fährt nicht gegen die Wand. Die CDU ist tendenziell eher pro Riester. Das weiß ich aus Gesprächen. Die SPD, die ja das Produkt erfunden hat, denkt da leider ideologisch und möchte sich von Gerhard Schröders Agenda 2010 verabschieden und zurück zur gesetzlichen Rente.
Die demographische Krise ist nicht mehr zu vermeiden. Die Mädchen, die nicht geboren wurden und werden, können heute und morgen keine Kinder bekommen. Das gesetzliche Rentenversicherungssystem steht vor der Apokalypse. Wenn SPD und Linke glauben, mit zusätzlichen Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern das System renovieren zu können, ist das quasi das Reiten eines toten Pferdes.
Wenn wir beide Mitte der 30er Jahre in den Ruhestand gehen, sind wir die erste Generation, bei der weniger als zwei Erwerbstätige die Rente einer Rentnerin, eines Rentners werden stemmen müssen. Die gesetzliche Rente ist nicht mehr sicher. Weil die Höhe anpassbar ist. Was niemand sagt ist, dass die gesetzliche Rente in 20 Jahren definitiv niedriger ist als heute.
Woher soll das Geld denn kommen. Wenn Sie sich anschauen, wie viel Geld im Staatshaushalt für die gesetzliche Rente aufgewendet wird, braucht es neben dem Umlageverfahren, dass ich für eine sehr kluge Idee halte, zusätzliche Kapitaldeckungsverfahren. Und die müssen steuerlich gefördert werden. Die Investitionen in Riester rentieren sich für den Staat. Und worin liegt die Rendite? In deutlich weniger Aufwendungen für die Sozialhilfe.
Neben Riester hat ja auch die bAV mit mangelnden Reformwillen der Politik zu kämpfen. Die Reform bleibt aus. Die vertrieblichen Folgen, das zeigt eine Studie von Assekurata, sind sichtbar.
Gräfer: Die Idee bei der bAV ist die gleiche wie bei Riester. Eine Standardlösung, ein Fonds, idealerweise staatlich verwaltet, mit niedrigen Kosten. Im Augenblick haben wir einen Beitragssatz in der Rentenversicherung von 18 Prozent. Die FDP will davon zwei Prozent in einen Staatsfonds leiten. Das wäre nicht realistisch, weil dann ja nur noch 16 Prozent im Umlageverfahren ankämen. Und das reicht nicht aus, um die laufenden Renten zu decken.
Hinzu kommt: Bis die zwei Prozent Rendite erwirtschaften, braucht es Zeit. Die CDU plant mit weiteren Fonds. Und will über die 18 Prozent hinauszugehen. Das Geld, das heute für die Riester-Förderung genutzt wird, würde in eine staatliche Fondslösung geleitet. Das Problem solcher Fondslösungen sehen Sie im angelsächischen Raum. Läuft es schlecht und Sie gehen zum falschen Zeitpunkt in Rente, fehlt Geld.
Deswegen ist eine Diversifikation für die Altersvorsorge von hoher Relevanz. Eine ausschließliche Fondslösung halte ich für falsch. Nur auf das Umlageverfahren zu setzen, ist auch keine Lösung. Ich halte das Drei-Schichtenmodell, das übrigens von SPD und den Grünen stammt, für eine sehr kluge Lösung.
Das Interview führte Jörg Droste, Cash.