Herr Dr. Groß, was macht einen guten „Digital Leader“ während einer weltweiten Pandemie aus?
Groß: Mit Beginn der Pandemie stand das Thema „Remote Leadership“, also das Führen auf Distanz, plötzlich im Vordergrund. Viele Menschen haben auf einmal zu 100 Prozent auf Distanz gearbeitet – dadurch standen neue Themen im Fokus. Ein wichtiger Punkt ist, sich bewusst Zeit für das Thema Führung zu nehmen, weil die informellen Führungsanlässe fehlen, die man im Büro so nebenbei hat, zum Beispiel in der Kaffeeküche oder beim gemeinsamen Mittagessen. Wir haben unseren Kunden gezeigt, wie man es schafft, sich bewusst Zeit für das Thema Führung auf Distanz zu nehmen, um das, was informell läuft, strukturiert zu bearbeiten. Es geht ja gar nicht anders, weil man sich nicht mehr zufällig trifft. Der zweite wichtige Punkt ist Methodenkompetenz. Führung auf Distanz braucht Methoden, die Emotionen wecken können. Das gilt insbesondere für das Thema Teambuilding. Da sind die Führungskräfte viel mehr als früher gefordert, kreative Methoden einzubringen.
Wir haben bereits 2019 ein Interview zum Thema „Digital Leadership“ mit Ihnen geführt. Damals sagten Sie: „Es ist wichtig, als Digital Leader Dinge zuzulassen, die so bisher nicht denkbar waren, zum Beispiel andere Entscheidungsprozesse.“ Das müsste in der Pandemie ja erst recht gelten, oder?
Groß: Vertrauen und ergebnisorientiertes Führen sind in der Pandemie noch wichtiger geworden. Führungskräfte können ja gar nicht mehr kontrollieren, was ihre Mitarbeiter machen. Die Verständigung darüber, welche Ergebnisse erzielt werden können und welche Dinge zurückgestellt werden sollten, erfolgt wesentlich kooperativer. Das ist eines der wichtigen Learnings, die uns auch nach der Pandemie positiv begleiten können.
In Ihrem „Digital Leader Gamebook“ empfehlen Sie, keine Geheimbünde zu schmieden. Begünstigen die neuen Arbeitsbedingungen in der Pandemie, speziell die Arbeit im Homeoffice, die Bildung von Geheimbünden?
Groß: Gute Führung bedeutet, darauf zu achten, dass so etwas nicht passiert. Es gibt bei den Mitarbeitern zwei Extreme: Da sind die Eigenbrötler, die bei Remote-Arbeit im Homeoffice besonders gefährdet sind, abgehängt zu werden. Diese Personen müssen integriert werden, zum Beispiel indem man ihnen Aufgaben fürs Team überträgt. Das andere Extrem sind die Selbstdarsteller, die sehr kommunikativ sind und sich immer anbieten. Die haben bei Remote-Arbeit einen Vorteil. Hier gilt es sich zu fragen, wie man das fürs Team nutzen kann – indem man ihr Engagement kanalisiert, zum Beispiel das Moderieren von Workshops. Die Durchmischung in einer Abteilung oder in einem Team muss auch im Remote-Zustand funktionieren.
Wie wichtig ist es in der neuen Arbeitswelt, auf die individuellen Bedürfnisse jedes einzelnen Mitarbeiters einzugehen, statt allen pauschal eine Lösung überzustülpen?
Groß: Hybride Arbeit braucht klare Regeln. Zur Zeit ist das „3+2“ ja eine beliebte Formel – drei Tage im Büro, zwei Tage im Homeoffice, oder umgekehrt. Damit ist es aber nicht getan, denn das ist nur eine quantitative Definition. Entscheidend ist die Qualität: Was will man eigentlich mit der hybriden Arbeit erreichen? Da hört man meist die Klassiker: höhere Flexibilität für alle Mitarbeiter, mehr Attraktivität als Arbeitgeber. Das ist aber ein bisschen oberflächlich, da sollte man schon tiefer gehen: Wie kann die Betreuung von Kindern mit dem Bedarf der Organisation verbunden werden? Wie kann der Zusammenhalt im Team bei hybrider Arbeit weiter funktionieren? Aus dieser Problembestimmung heraus müssen Lösungen gefunden werden, die für das ganze Team sinnvoll sind.
Mit Ihrem Unternehmen Groß & Cie. entwickeln Sie „New-Work“-Lösungen für Ihre Kunden und schreiben dazu auf Ihrer Homepage: „New Work bedeutet viel mehr als neue Bürokonzepte, ein Tischkicker im Eingang und ein Sofa in der Ecke.“ Worauf kommt es an?
Groß: Für eine „New Work Culture“ braucht man verschiedene Handlungsebenen. Es ist nicht damit getan, einen Tischkicker in den Flur zu stellen. Das haben viele Führungskräfte mittlerweile verstanden. Es reicht aber auch nicht, komplett neue Räume bereitzustellen, das sieht man beim Thema non-territoriales Arbeiten, bei dem die feste Zuordnung von Arbeitnehmern und Arbeitsplätzen aufgelöst wird. Das kann man zwar räumlich schön organisieren, nur verändern sich dabei automatisch auch die Arbeitsformen und die Machtstrukturen im Büro. Man braucht wesentlich mehr Selbstführung, gegenseitige Rücksichtnahme und eine höhere Resilienz, weil nicht alles hundertprozentig funktioniert. Man darf nicht sofort auf die Barrikaden gehen, wenn mal kein freier Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Eine „New Work Culture“ braucht die Fähigkeit zur Selbstführung und zur Selbstorganisation. Die hat aber nicht jeder, schon gar nicht sofort.
Wie digital wird die Arbeitswelt der Zukunft sein? Sind die Veränderungen, die in der Pandemie stattgefunden haben, unumkehrbar?
Groß: Die Corona-Pandemie war ein Beschleuniger von bestimmten Veränderungsprozessen, die schon vorher wichtig gewesen sind. Es war ja schon vor Corona so, dass man über neue Arbeitsformen diskutiert hat. Jetzt mussten sie alle Unternehmen umsetzen und haben einen Digitalisierungsschub erfahren. Der Einsatz von bestimmten IT-Lösungen, die eigentlich schon immer vorhanden waren, wurde plötzlich Standard. Die Frage ist, wie man künftig damit umgeht. Ein Beispiel: Wenn man sich zu zweit oder zu dritt unterhalten will, kann man einfach auch mal wieder telefonieren, man muss nicht für jeden Kram eine Videokonferenz aufsetzen. Vielleicht greifen wir in Zukunft auch mal wieder zum Hörer. Zumal die Aufmerksamkeitsspanne online begrenzt ist. Deshalb sollte auch kein Online-Meeting länger als 45 Minuten dauern.
Mir ist aufgefallen, wie häufig der Begriff „Furcht“ in Pressemitteilungen zum Thema Digitalisierung der Arbeitswelt vorkommt. Was sagt Ihnen das?
Groß: Wir haben in Mitteleuropa ein massives demografisches Problem, das wesentlich größer ist als das Problem, dass Arbeitsplätze durch die Digitalisierung verschwinden. Richtig ist, dass bestimmte Arbeitsprofile verschwinden werden. Das war aber immer schon so – insbesondere bei Routinetätigkeiten. Aufgrund der demografischen Entwicklung gibt es aber auch immer weniger Menschen, die diese Jobs ausüben können. Die Lücken, die durch die Alterung unserer Belegschaften entstehen, können zum Teil durch Digitalisierung geschlossen werden. Wichtige Standardprozesse werden so digitalisiert, dass man dafür keine Menschen mehr braucht. Die Maschine ist also kein Gegner, sondern Kollege.
In der Finanzdienstleistungsbranche ist häufig zu hören, dass sich zwar die Beratung und der Verkauf von einfachen Finanzprodukten digitalisieren lasse, nicht aber von komplexen Produkten wie zum Beispiel einer Berufsunfähigkeitsversicherung. Ist das eine realistische Einschätzung oder eher das berühmte „Pfeifen im Walde“, denn die Technik entwickelt sich ja immer weiter?
Groß: Bei komplexen Produkten wie einer Berufsunfähigkeitsversicherung müssen ja auch die Risiken im Hintergrund gemanagt werden, das ist nicht ganz so trivial. Die entscheidende Botschaft, die ich meinen Kunden mitgebe, lautet: Ihr habt das Wissen! Ihr habt den Zugang zum Kunden! Ihr seid in der Verantwortung, euch nicht wegdigitalisieren zu lassen. Mit eurem Wissen und den neuen digitalen Tools könnt ihr auch gegenüber den großen Tech-Companys weiter im Vorteil sein.
Was erhoffen Sie sich von der neuen Bundesregierung in Sachen Digitalisierung?
Groß: Das wichtigste ist, dass Hindernisse für die Wirtschaft weggeräumt werden. Insbesondere Routineprozesse müssen digitalisiert werden. Es gibt zu viele bürokratische Hindernisse und viel zu lange Genehmigungsprozesse. Ich habe gerade selbst erlebt, dass ein Eintrag ins Handelsregister zwei Monate dauerte, weil Akten noch nicht digitalisiert wurden und auch nicht mit ins Homeoffice genommen werden dürfen. Da kann ich nur den Kopf schütteln.
Das Gespräch führte Kim Brodtmann, Cash.