EZB-Vizepräsident Luis de Guindos brachte es in der vergangenen Woche auf den Punkt, als er sagte, dass zum einen viele Indikatoren bereits eine Abschwächung der Inflation anzeigen und zum anderen die Zinserhöhungen erst mit entsprechendem Zeitverzug ihre Wirkung entfalten. Gleiches gilt für die USA, wo die Fed ebenfalls vor einem Politikfehler steht, der am Ende für eine völlig unnötige Rezession verantwortlich sein könnte. Auch wenn immer noch Hoffnung besteht, dass sich beide Notenbanken der Realität einer nachlassenden Inflationsdynamik im zweiten Halbjahr stellen und den Zinserhöhungsprozess „ausschleichen“ lassen, haben die steigenden Aktienbewertungen bei gleichzeitig gestiegenen Anleiherenditen die Bewertungsrelationen (d.h. die Risikoprämien) zugunsten der Anleihen verschoben. Dies zusammen mit dem Risiko einer geldpolitischen Überreaktion spricht für eine noch stärkere Selektion am Aktienmarkt.
Die große Überraschung in der zweiten Jahreshälfte 2023 wird sein, wie schnell die Inflationsraten global fallen werden. Alle von uns beobachteten Indikatoren zeigen bereits eine starke Disinflation in der globalen Industrie, wobei Asien im Moment der große Disinflationsexporteur ist. Aber auch im Dienstleistungsbereich sollte sich das Inflationsbild in den kommenden Monaten deutlich verbessern. In den USA z.B. liegt über die letzten drei Monate gesehen die annualisierte Inflationsrate im Dienstleistungssektor ohne Wohnkosten bereits unter null Prozent.
Hohes Nominalwachstum stützt Unternehmensgewinne
Da die US-Notenbank bereits eine restriktive Geldpolitik fährt, ist es um so unverständlicher, dass diese offenbar die Geduld verliert und entschieden hat, die Zinsen noch weiter zu erhöhen. Ende des Monats sind weitere 25 Basispunkte fest eingeplant, und auch die Europäische Zentralbank wird vermutlich noch zwei weitere Zinserhöhungen vornehmen. Damit werden die monetären Rahmenbedingungen sowohl in den USA als auch in der Eurozone in der zweiten Jahreshälfte noch restriktiver und belasten damit völlig unnötig das noch immer recht robuste Konjunkturumfeld. Die bis zuletzt positive Gewinnentwicklung im Unternehmenssektor bzw. das Ausbleiben einer Gewinnrezession war zum großen Teil das Ergebnis der bis sehr günstigen Inflationsdynamik. Der Rückgang der Headline-Inflation durch die fallenden Energiepreise setzt Kaufkraft frei und wirkt auf den Konsumenten wie eine Steuersenkung, während der langsamere Rückgang in der Kernrate ein positives Konjunkturumfeld indiziert und so das nominale Wachstum hochgehalten wird. Die vielerorts ausgerufene Gewinnrezession in den Unternehmen findet in diesem Umfeld schlichtweg nicht statt.
Risiko einer geldpolitischen Überreaktion
Nun aber besteht das Risiko, dass ein monetäres „Overtightening“ dieser günstigen Dynamik ein Ende bereitet und ein (zu schneller) Rückgang der Kerninflation auch das nominale Wachstum schmelzen lässt. Gerade in der Eurozone würden dann die strukturellen Schwächen des Wirtschaftsraums wieder voll sichtbar, während in den USA die Wirtschaft strukturell deutlich besser aufgestellt ist und die Fed zudem zumindest die Möglichkeit hat, die Zinsen wieder zu senken. Dies ist dann zwar eher ein Thema für den Herbst oder Winter als für das laufende Quartal, aber auch hier sollten die Finanzmärkte diese Entwicklung gut antizipieren.
Niedrige Risikoprämien für Aktien
Die gute Entwicklung der globalen Aktienmärkte in der ersten Jahreshälfte wurde primär über einen Anstieg der Bewertungen (Multiple Expansion) getrieben. Ökonomisch kann dies gut über die abnehmende Unsicherheit über den zukünftigen Notenbankkurs (d.h. die abnehmende Zinsvolatilität) erklärt werden. Noch immer gehen wir davon aus, dass die Notenbanken der Inflationsdynamik im zweiten Halbjahr Rechnung tragen werden und den Zinserhöhungsprozess „ausschleichen“ lassen. Dennoch ist es richtig, dass die steigenden Aktienbewertungen und gleichzeitig gestiegenen Anleiherenditen die relativen Bewertungsrelationen (d.h. die Risikoprämien) zugunsten der Anleihen verschoben haben. Dies zusammen mit dem Risiko eines geldpolitischen „Overtightenings“ spricht für eine noch stärkere Selektion am Aktienmarkt.
Italien und Spanien weiter günstig bewertet
In der Eurozone gelten lediglich die peripheren Länder wie Italien und Spanien als Gewinner der hohen Nominalwachstumsdynamik bei noch immer sehr günstigen Bewertungen (absolut wie auch im Falle Italiens gegenüber Staatsanleihen). Auf der Verkaufsliste steht dagegen ganz klar China, eine der großen Enttäuschungen dieses Jahres. Zum einen bleiben die zyklischen Konjunkturindikatoren hinter den Erwartungen zurück, der Post-Corona-Rebound war sehr schwach und das Land steht am Rande zur Deflation. Zum anderen wird China von vielen Investoren strukturell deallokiert, so dass hier ein zyklusunabhängiger Gegenwind herrscht.
US-Big Tech bleibt attraktiv
Stattdessen fokussieren wir auf der Aktienseite die USA mit einem moderaten Schwerpunkt auf die großen US-Technologieaktien. Dafür sprechen vor allem zwei Aspekte: Erstens konzentriert sich das Thema Künstliche Intelligenz noch auf wenige große Unternehmen, weil entweder ein hohes technologisches Know-how (Nvidia) oder eine hohe Datenmenge erforderlich ist, um hier ganz vorn mitzuspielen. Dies sorgt für hohe Eintrittsbarrieren für neue Marktteilnehmer und zu einer Konzentration auf nur Wenige. Zweitens haben viele Big-Tech-Unternehmen eine starke Preissetzungsmacht und sind wegen ihrer hohen finanziellen Flexibilität weniger anfällig für den Zinserhöhungskurs der Fed. Dass diese Aktien die Performance-Treiber des ersten Halbjahres waren und deshalb recht hohe Bewertungen aufweisen, bedeutet im Umkehrschluss, dass die Bewertungen im breiten US-Markt nicht so hoch sind wie allgemein angenommen. Der S&P 500 Equal Weight hat ein P/E von gerade 17 und ist damit völlig unauffällig bewertet.