In vielen Branchen ist ein Sanierungsstau anzutreffen, der die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt. Er sollte als ein warnendes Beispiel dienen, die kontinuierlich erforderliche Modernisierung durch den Einsatz neuer Technologien nicht auf die lange Bank zu schieben.
Die Versicherungsbranche bildet hier keine Ausnahme. Sie muss sich frühzeitig zukunftssicher aufstellen, auch im Hinblick auf neue Entwicklungen und Trends. Dabei geht es vor allem um Open Insurance, generative KI und die Cloud.
Ein zentraler Trend in der Versicherungsbranche ist derzeit die Umsetzung von Open-Insurance-Modellen. Versicherer werden diesen Weg verstärkt gehen müssen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und zu steigern. Die Open-Banking-Strategie in der Bankenbranche liefert dafür ein gutes Beispiel.
Allerdings war diese Entwicklung maßgeblich von der Regulatorik getrieben, etwa durch die EU-Zahlungsdiensterichtlinie PSD2 (Payment Services Directive 2), die Finanzinstitute zur Öffnung des Zahlungsverkehrs und der Kontoauskünfte auch für FinTechs verpflichtete. Im Versicherungswesen ist der Treiber weniger die Regulatorik als vielmehr die nötige Technik-Offenheit und der Wettbewerb mit neuen Marktteilnehmern.
Open Insurance als Innovationstreiber
Ein Open-Insurance-Ökosystem hilft Versicherern, sich mit Partnern zu vernetzen, etwa mit anderen Versicherungsunternehmen, Finanzdienstleistern, InsurTechs und Drittanbietern von Dienstleistungen aus fremden Branchen. Die Vorteile eines solchen Ökosystems sind weitreichend. Versicherer können integrierte Produkte und Services bereitstellen, die die Kunden erwarten, sowie neue Geschäftsmodelle realisieren und sich zusätzliche Umsatzquellen erschließen. Ein Beispiel dafür wäre die Etablierung eines Embedded-Insurance-Modells, das Kunden ein One-Stop-Shopping ermöglicht, sodass sie etwa beim Kauf eines Autos oder E-Bikes inkludiert eine Versicherung erhalten.
Die Herausforderung für Versicherer bei der Umsetzung solcher Modelle ist vielfach die vorhandene IT-Infrastruktur mit Mainframe-, UNIX- oder AS/400-basierten Legacy-Anwendungen, die keine Flexibilität und Agilität bieten. Zudem bestehen die meisten IT-Umgebungen aus einer Vielzahl von Systemen und Anwendungen, die speziell für bestimmte Versicherungsprodukte entwickelt wurden. Ein Greenfield-Ansatz ist somit kein gangbarer Weg. Versicherer müssen stattdessen eine aufwändigere Brownfield-Strategie verfolgen.
Dabei sollten sie zunächst eine Enterprise-Architecture-Strategie festlegen und diejenigen Systeme identifizieren, die für die Umsetzung eines Open-Insurance-Modells benötigt werden. Eine Modernisierung ist dabei oft unvermeidlich. Unter technischen Gesichtspunkten ist vor allem der Einsatz offener Standards und sogenannter Open APIs (Application Programming Interfaces) erforderlich, die die Grundvoraussetzung für eine Vernetzung und Nutzung des Ökosystems sind – mit einer Verbindung von Services, Produkten und Daten.
Offene Hybrid-Cloud-Plattformen als Fundament
Im Hinblick auf den Modernisierungsdruck rücken ohnehin neue Lösungen, Technologien und Architekturen verstärkt in den Fokus der Versicherer, etwa die Cloud-native Anwendungsentwicklung und -bereitstellung, Container und Microservices. Vor allem offene Hybrid-Cloud-Plattformen gewinnen im Versicherungsmarkt an Bedeutung. Sie unterstützen sowohl die Entwicklung und Bereitstellung innovativer Applikationen und Services als auch die Umsetzung von Open-Insurance-Modellen. Zudem bieten solche Plattformen eine höhere Flexibilität, die gerade für Versicherer unverzichtbar ist.
So können sie Anwendungen abhängig von Compliance-Anforderungen oder eigenen Sicherheitsrichtlinien vor Ort im eigenen Rechenzentrum, in einer Private Cloud oder in einer Public Cloud nutzen. Bei der Cloud-Nutzung darf ein wichtiger Punkt nicht übersehen werden: Es sollte dabei nicht um Lift-and-Shift-Migrationen mit einer bloßen Verlagerung von Systemen gehen, denn damit werden die Potenziale der Cloud etwa hinsichtlich Kosteneffizienz durch eine elastische Ressourcennutzung nur unzureichend ausgeschöpft. Parallel muss auch immer die Anwendungsmodernisierung adressiert werden.
KI als Gamechanger
Neben Open Insurance und Cloud steht in der Versicherungsbranche derzeit auch KI auf der IT-Agenda. Die generative KI zählt derzeit zu den Trendthemen schlechthin. Nahezu alle Unternehmen beschäftigen sich intensiv mit den neuen Möglichkeiten, die KI für bessere Kundenerlebnisse sowie die Prozessoptimierung und -automatisierung bietet. Auch Versicherungsunternehmen müssen sich dieser Entwicklung stellen und sie starten auch erste Experimente und Pilotprojekte, selbst wenn die Nutzung im Produktivbetrieb derzeit noch etwas zögerlich angegangen wird. Hier bestehen noch Unsicherheiten bezüglich vorhandener und zukünftiger Regulierungen, beispielsweise im Hinblick auf DSGVO, DORA und den AI-Act der EU.
Auf lange Sicht wird der KI-Einsatz im Versicherungswesen selbst in Kernsystemen zunehmen. Aber bereits heute können Versicherer KI verwenden, um bestehende Systeme „menschlicher“ zu gestalten. Ein Beispiel dafür ist das Natural Language Processing, das bei interaktiven Chat-Bots genutzt wird und eine verbesserte Spracherkennung und -ausgabe bietet, sodass für Anrufer kein Roboter mehr zu erkennen ist und das Kundenerlebnis optimiert wird.
KI kann auch beim initialen Call-Routing unterstützen, um Kunden schneller an die kompetente Abteilung weiterzuleiten. Die Einführung von KI-basierten Anwendungen ist allerdings mit zahlreichen – vor allem infrastrukturellen – Herausforderungen verbunden. Sie betreffen zum Beispiel die Hardware-Ressourcen mit kostenintensiven GPUs (Graphics Processing Units) als Beschleunigungsfunktionen. Ein vollständiger Do-it-yourself-Weg ist dabei oft kaum praktikabel, schließlich wird eine flexible und skalierbare Basis für das Training, die Wartung, die Feinabstimmung und die tatsächliche Nutzung von KI-Modellen in der Produktivumgebung benötigt.
Die Basis für die vielfältigen Aufgaben stellt auch hier eine offene Kubernetes-basierte Hybrid-Cloud-Plattform dar, die eine konsistente Infrastruktur für die KI-Modell-Entwicklung, das KI-Modell-Training und auch die KI-Modell-Einbettung in Anwendungen für IT-Umgebungen sowohl in der Cloud als auch im eigenen Rechenzentrum bieten kann. Bei Versicherungen bestehen beim Cloud-Thema dabei oft noch Bedenken hinsichtlich der Verwendbarkeit ihrer vertraulichen und proprietären Daten. Folglich sind sie zurückhaltend bei der Einbindung der Services von Drittanbietern.
Ein zentraler Vorteil einer offenen Hybrid-Cloud-Plattform ist aber die hohe Flexibilität, die sie Unternehmen hinsichtlich der genutzten Infrastruktur bietet: von einer On-Premises- bis zu einer Cloud-Umgebung. Versicherungen können so Modelle mit sensitiven Daten on-premises entwickeln, trainieren und anschließend in der Cloud nutzen. Umgekehrt ist es aber auch möglich, Modelle etwa mit anonymisierten Testdaten in der Public Cloud zu entwickeln und zu trainieren sowie diese Modelle dann anschließend in eine On-Premises-Anwendung zu integrieren.
Prinzipiell werden im KI-Bereich noch viele Innovationen folgen, sodass sich Versicherungen auch nicht auf einen einzigen strategischen Partner festlegen sollten. Voraussichtlich werden auch Drittanbieter mit branchenspezifischen KI-Services in den Markt eintreten. Die Aufgabe für Versicherer lautet deshalb, die Offenheit zu bewahren.
Es steht außer Frage, dass Versicherungen wie andere Unternehmen auch vor einem zunehmenden Wettbewerbsdruck stehen. Neue Player wie InsurTechs, Automobilhersteller, aber auch Technologieanbieter gefährden das Stammgeschäft. Versicherer müssen somit die digitale Transformation konsequent vorantreiben, um konkurrenzfähig zu bleiben und die Marktposition zu sichern beziehungsweise auszubauen. Open Insurance, KI und die Nutzung von Cloud-Services sind dabei die entscheidenden Innovationstreiber.
Der Autor Armin M. Warda sit FSI EMEA Chief Technologist bei Red Hat.