Als nur wenige Monate nach seinem 90-jährigen Vater auch noch die 84-jährige Mutter ins Pflegeheim kam, sah sich Dr. Bruno Müller neben der Sorge um seine betagten Eltern auch noch mit exorbitanten Kosten konfrontiert. Mehr als 7.000 Euro monatlich fehlten für die Pflege, denn die Eltern hatten zur Miete gewohnt, verfügten nur über eine kleine Rente und kein zusätzliches Vermögen. Da Müller – einziger Sohn, ledig und kinderlos – als Hausarzt über 100.000 Euro brutto verdiente, war er laut dem 2020 in Kraft getretenen Angehörigen-Entlastungsgesetz verpflichtet, für seine Eltern aufzukommen und die offenen Pflegeheimkosten zu übernehmen. Letztlich verkaufte Müller seine nicht selbst genutzte Eigentumswohnung, um die Kosten zu stemmen.
Dieser Praxisfall mag drastisch klingen, ist aber beileibe keine Ausnahme. Das Problem: Immer mehr Menschen benötigen Pflege, die Pflegekosten steigen von Jahr zu Jahr, die im Umlageverfahren organisierte staatliche soziale Pflegeversicherung (SPV) kann nur einen Bruchteil davon abdecken und wird daher immer teurer. Die Lösung, sich frühzeitig zusätzlich privat abzusichern – so wie bei der Rente – ist hingegen nur schwach verbreitet. Laut GDV verfügten Ende 2023 lediglich 9,14 Millionen Bürger über eine private Pflegepolice. Das ist gerade einmal jeder Achte der in der sozialen Pflegeversicherung erfassten 74,56 Millionen Menschen. Auf der anderen Seite bezogen Ende 2023 bereits 5,24 Millionen Menschen Leistungen aus der SPV, mehr als doppelt so viele als noch zehn Jahre zuvor (2,48 Millionen).
Die Finanzlage spitzt sich zu
Angesichts des Drucks von Demographie und Kosten werden Rufe nach einer Reform des überlasteten Systems immer lauter. „Die Finanzlage der SPV spitzt sich immer weiter zu – gibt es keine Kursänderung, wird die SPV in wenigen Jahren ihre Funktionsfähigkeit verlieren“, sagt Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit. Es sei fraglich, ob das Bundesgesundheitsministerium in der Lage sein werde, in den noch verbleibenden Monaten dieser Legislaturperiode die notwendigen Maßnahmen auf den Weg zu bringen. „Vielmehr zeichnen sich bereits jetzt erhebliche Finanzierungslücken ab, die eine Beitragssatzerhöhung zum kommenden Jahreswechsel erforderlich machen“, prognostiziert Storm.
Die DAK nennt aus ihrer Sicht fünf Aspekte (siehe Kasten), die die Zukunft der SPV sichern könnten, darunter auch einen Finanzausgleich mit der privaten Pflegeversicherung.
5 Aspekte für eine stabile und zukunftssichere Pflegeversicherung | |
1. | Lösung des Finanzproblems: Derzeit belastet allein die Übernahme der Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige die SPV-Finanzen massiv. Diese und andere versicherungsfremde Leistungen sind ohne Wenn und Aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und deshalb aus Steuermitteln zu finanzieren. |
2. | Änderungen der Schuldenbremse und Abkehr vom Dogma der 40 Prozent-Marke als Obergrenze für die Sozialabgaben: Das beitragsfinanzierte Umlagesystem der Pflegeversicherung ist und bleibt zentraler Baustein des bestehenden Teilleistungssystems der SPV. |
3. | Finanzausgleich mit privater Pflegeversicherung: Durch sozial ungerechte Risikoverteilung zwischen Sozialer und Privater Pflegeversicherung entstehen der SPV jährlich finanzielle Nachteile in Milliardenhöhe. Hier muss es einen Finanzausgleich geben. |
4. | Bundesländer müssen für Investitionskosten bei stationärer Pflege aufkommen. Nur so können die Eigenanteile von Pflegeheimbewohnenden reduziert werden. In der Folge würden dann auch die Ausgaben der Länder für die Sozialleistungen im Rahmen der sogenannten Hilfe zur Pflege (HzP) sinken. |
5. | Wirksame Maßnahmen gegen den Mangel an Pflegekräften: Steigerung der Attraktivität des Berufsbilds. Stärkung der ehrenamtlichen Pflege und Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Laienpflege, um professionelle Pflegekräfte zu entlasten. Es bedarf neuer Versorgungskonzepte, um dem wachsenden Fachkräftemangel und einer drohenden Unterversorgung in der Pflege älterer Menschen entgegenzuwirken. Quelle: DAK Gesundheit |
Als ein wichtiger Reformschritt gilt branchenweit, das Verständnis für die Pflegeversicherung als Basisabsicherung zu schärfen. „Viele Menschen erwarten, dass der Staat sämtliche Pflegekosten abdeckt. Diese Vollkasko-Mentalität führt langfristig zu einer Überlastung des Systems. Hier könnte die private Pflegeversicherung einen wertvollen Beitrag leisten“, sagt Frauke Fiegl, Mitglied des Vorstands der Ergo Deutschland AG und dort verantwortlich für das Segment Gesundheit. Sie befürwortet für die SPV ein kapitalgedecktes Verfahren, mit dem Alterungsrückstellungen gebildet würden, was nicht nur den Staat entlastet, sondern auch künftige Generationen schützt.
Auch die SDK Versicherungsgruppe spricht sich für eine kapitalgedeckte Vorsorge aus. „Ein Lösungsansatz könnte die Einführung einer Aktienpflegerente sein, ähnlich der bereits bekannten Aktienrente, jedoch in größerem (relativen) Umfang. Bis die Baby-Boomer zu Pflegefällen werden, sind noch rund 15 bis 20 Jahre Zeit, die unbedingt zum Aufbau eines Kapitalstocks genutzt werden müssen“, betont Dr. Ulrich Mitzlaff, Vorstandssprecher und zuständig für Zentralbereiche der SDK. Seiner Ansicht nach dürfte eine Höhe von 20 bis 22 Milliarden Euro – anders als in der Rentenversicherung – bereits ausreichen. „Diese Kapitaldeckung würde langfristig die Stabilität der Pflegeversicherung sichern, so Mitzlaff.
Ein weiterer Vorschlag mit einer sinnvollen Ergänzung des Umlageverfahrens kommt vom PKV-Verband, der mit einem ‚Neuen Generationenvertrag‘ die Eigenverantwortung und die private Vorsorge stärken möchte. „Das Konzept sieht vor, den Beitragssatz zur SPV zu stabilisieren oder sogar zu senken, indem die Leistungsausgaben weniger stark steigen als die Einnahmen. So könnte sich die jüngere Generation bei vergleichbarer finanzieller Gesamtbelastung zukünftig sogar mit einer Pflegezusatzversicherung eine vollständige Absicherung der pflegebedingten Kosten leisten“, sagt Verena Finkenstädt, Referentin für Gesundheitspolitik beim PKV-Verband. Die Verschuldung zu Lasten der jüngeren Generation würde erstmals in einem Sozialversicherungszweig auf null gefahren.
Vertrieblich wenig umgesetztes Potenzial
Bisher wollte die jüngere Generation indes nicht viel von privaten Pflegepolicen wissen. „In der Tat ist die Deckung dieses definitiv vorhandenen Bedarfs ein vertrieblich wenig umgesetztes Potenzial. Insbesondere junge Menschen fühlen sich von einem möglichen Eintritt eines Pflegefalls sehr weit entfernt, wenngleich es in nahezu jeder Familie erlebbare Praxisfälle gibt“, betont Matthias Horn, Vorstandsmitglied NVS Netfonds Versicherungsservice AG.
Die Wahrscheinlichkeit, selbst pflegebedürftig zu werden, wird systematisch unterschätzt (siehe Grafik). Junge Menschen richten oftmals den Fokus auf den Erwerb einer eigengenutzten Immobilie und sichern sich mit Standardabsicherungen gegen die Unwägbarkeiten des Lebens. „Der Anstieg von Zinsen und Inflation reduziert die vorhandene Liquidität und dadurch wird das Thema Pflege in die Zukunft verlagert“, so Horn weiter.
In der Zukunft ist meist zwar mehr Liquidität vorhanden, aber dann ist es für eine Absicherung oftmals zu spät. „Das Thema wird häufig erst dann vakant, wenn zum Beispiel ein Elternteil pflegebedürftig wird. Häufig ist es aufgrund von Vorerkrankungen dann nicht mehr möglich, eine bedarfsgerechte Pflegezusatzversicherung für sich selbst abzuschließen“, sagt eine Sprecherin der Barmenia gegenüber Cash. Die Pflegezusatzversicherung lohne sich provisionstechnisch für den Vertrieb nicht.
Die tägliche Beratungspraxis zeigt zwar, dass das Thema fast allen Kunden sehr wichtig ist, es aber bei weitem nicht ganz oben auf der Prioritätenliste der Absicherung steht. „Die Angst vor Altersarmut überwiegt bei den meisten Menschen und ist bei vielen so groß, dass oft die finanziellen Mittel für eine zusätzliche Pflegeabsicherung neben den Themen Kindervorsorge, Eigenheim und Schutz vor Altersarmut nicht ausreichen“, weiß Jonas Müller, selbstständiger Handelsvertreter der Valuniq AG.
Die Zusatzversicherung sei zu komplex und erklärungsbedürftig und zu teuer, lauten zudem häufige Vorwürfe. Trotz eines gestiegenen Bewusstseins stellt die Höhe der Beiträge oft das größte Hindernis dar, selbst wenn der Bedarf erkannt wird. „Ein 40-jähriger Versicherungsnehmer zahlt oft um die 150 Euro monatlich für eine Absicherung im mittleren Bereich. Diese Beiträge sind für viele Menschen, insbesondere angesichts der Inflation und steigender Lebenshaltungskosten, schwer tragbar“, bestätigt SDK-Vorstand Mitzlaff.
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