Seit Jahrzehnten ist die Rente Gegenstand hitziger Debatten, großspuriger Reformversprechen und symbolischer Gesetzesänderungen – aber eine grundlegende, nachhaltige Lösung? Fehlanzeige. Dabei hätte das deutsche Rentensystem nicht nur einen großen Wurf verdient – es bräuchte ihn zwingend. Denn wer ehrlich hinschaut, erkennt: Dieses System ist nicht mehr zukunftsfähig. Es lebt nur noch, weil es jährlich mit über 100 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt künstlich am Leben gehalten wird. Das entspricht in etwa jedem vierten ausgegebenen Bundes-Euro – und der Trend zeigt steil nach oben.
Diese Zahl allein sollte genügen, um Alarm auszulösen. Doch in der politischen Kommunikation ist davon kaum etwas zu hören. Stattdessen wird suggeriert: Alles in Ordnung, wir garantieren Stabilität. Doch Stabilität auf Pump ist keine Stabilität – das ist Augenwischerei. Und irgendwann, das ist unausweichlich, wird es zu einem harten Schnitt kommen müssen. Wem dann wie viel weggenommen wird, bleibt unklar. Klar ist nur: So wie jetzt geht es nicht weiter.
Der sogenannte Generationenvertrag ist das Fundament unseres Rentensystems. Das Prinzip: Die Jungen zahlen für die Alten. Die aktuell Erwerbstätigen finanzieren die aktuellen Rentner. In einer idealen Welt mit stabiler Bevölkerungspyramide mag das funktionieren. Doch wir leben nicht in dieser Welt.
Unsere Gesellschaft altert rapide. Immer weniger Junge müssen für immer mehr Ältere aufkommen. Die Folge: Beitragssätze steigen, Rentenniveaus sinken – und der Staat muss mit Milliarden eingreifen, weil er beides nicht derart drastisch machen möchte, wie es eigentlich notwendig wäre. Das ist kein tragfähiges System mehr, sondern ein Kartenhaus, das mit jedem demografischen Windstoß stärker wankt.
Und während die Fakten auf dem Tisch liegen, wird die öffentliche Diskussion konsequent vermieden. Zu heikel das Thema, zu riskant die Wahrheit, zu groß die Angst vor den Wählerstimmen der älteren Generation. Das Resultat: Stillstand. Oder kosmetische Korrekturen, wie sie uns der Koalitionsvertrag 2025 nun wieder präsentiert. Hauptsache man kann ausreichend Bullet-Points aufzählen, um zumindest verbal behaupten zu können, etwas für die Rente getan zu haben.
Eines dieser kosmetischen Elemente ist das sogenannte Generationenkapital. Ab 2025 sollen jährlich zwölf Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt in einen staatlich verwalteten Kapitalstock fließen. Dieser soll am Kapitalmarkt angelegt werden und langfristig zur Stabilisierung des Rentenbeitragssatzes beitragen. Klingt modern, ist aber in Wahrheit eine Nebelkerze. Denn gemessen am tatsächlichen Finanzbedarf der Rentenversicherung ist dieser Betrag marginal. Bei über 100 Milliarden Euro jährlichem Bundeszuschuss wirkt das wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Viel Lärm um wenig Wirkung.
Und selbst wenn man diesen Schritt als Beginn einer echten Kapitaldeckung nach norwegischem System verstehen will: Der norwegische Staatsfonds umfasst ein Volumen von mittlerweile mehr als 1.700 Milliarden Euro und versorgt damit lediglich knapp eine Million Rentner, wohingegen Deutschland über 21 Millionen Rentner beheimatet.
Ein weiterer Punkt, über den kaum jemand spricht: Der massive Bundeszuschuss zur Rentenversicherung kommt natürlich nicht aus dem Nichts. Er wird über Steuergelder finanziert – das heißt: Wir alle zahlen dafür, selbst wenn wir gar nicht (mehr) in das Rentensystem einzahlen. Realistisch betrachtet sind die Rentenbeiträge also deutlich höher als die offiziellen Zahlen vermuten lassen. Sie werden nur über Umwege und Buchungstricks verschleiert. Ehrlich ist das nicht – und vor allem eines: unfair. Aber was möchte man in Zeiten erwarten, in denen Schulden nun auch Sondervermögen heißen.
Das System misstraut mir
Besonders ärgerlich finde ich den Koalitionsvorschlag zur Altersvorsorgepflicht für Selbständige. Ich bin selbst betroffen und finde: Diese Idee ist nichts anderes als eine weitere Bevormundung. Laut Vertrag sollen Selbständige künftig verpflichtet werden, entweder in die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen – oder in private kapitalgedeckte Produkte. Wer sich befreien lassen will, muss nachweisen, dass er anderweitig ausreichend abgesichert ist.
Aber was bedeutet das konkret? Wer nicht in das staatliche System einzahlen möchte, wird quasi gezwungen, zu einem Versicherungsmakler zu rennen und ein Produkt abzuschließen, das weder flexibel noch günstig noch sinnvoll ist. Die Riester- und Rürup-Förderung lässt grüßen. Das ist kein Schutz der Selbständigen – das ist ein Geschenk an die Versicherungswirtschaft. Schon wieder.
Warum kann ich als freie Unternehmerin nicht selbst entscheiden, wie ich vorsorge? Warum muss ich mir Produkte aufzwingen lassen, die ich gar nicht will? Das System misstraut mir, obwohl ich es besser machen könnte. Und genau das ist das Problem: Misstrauen statt Vertrauen, Kontrolle statt Verantwortung, Bevormundung statt Befähigung, Abhängigkeit statt Freiheit.
Ein weiteres Prestigeprojekt: die Frühstart-Rente. Für jedes Kind zahlt der Staat zwischen dem 6. und 18. Lebensjahr monatlich zehn Euro in ein privates Depot. Das Geld bleibt bis zum Rentenalter unangetastet, ist steuerfrei und staatlich geschützt. Theoretisch ergibt das bei sechs Prozent Rendite rund 36.000 Euro zum Renteneintritt.
Keine echte Strategie
Doch Hand aufs Herz: Was bringt das wirklich? In einer Welt mit steigender Inflation, wachsender Altersarmut und ständig neuen Rentenreformen ist das ein nettes Extra – mehr nicht. Und schlimmer: Auch hier fehlt wieder die Bildung. Kinder lernen nicht, wie man investiert. Sie erfahren nichts über Risiko, Diversifikation oder Kosten. Sie kriegen einfach einen Sparvertrag verordnet – ohne Entscheidung, ohne Verantwortung, ohne Kompetenz. Das ist keine Altersvorsorge. Das ist Symbolpolitik. Und die macht leider nicht satt.
Wenn man alle Punkte des Koalitionsvertrags zur Rente nebeneinanderlegt, erkennt man ein klares Muster: Viel Klein-Klein, viel Stückwerk, viel politische Absicherung – aber keine echte Strategie.
Es fehlt ein systemischer Umbau. Es fehlt die Vision. Es fehlt der Mut. Und vor allem: Es fehlt die Bereitschaft, offen zu sagen, dass wir auf ein massives Problem zusteuern. Doch weil sich niemand traut, wird aufgeschoben, was längst hätte entschieden werden müssen. Und wer dann kritisiert, dem wird entgegnet: „Aber wir haben doch was gemacht!“ Ja, das stimmt. Ihr habt was gemacht. Aber eben nicht das, was wirklich nötig wäre.
Wir brauchen keine Placebos mehr. Wir brauchen mutige Schritte. Und eine ehrliche Debatte – über Beitragshöhen, Renteneintrittsalter, Kapitaldeckung, Altersarmut und Gerechtigkeit. Wir brauchen ein System, das Vertrauen schafft, statt es zu untergraben. Das aufklärt, statt zu verschleiern. Das bildet, statt zu bevormunden. Denn so, wie es jetzt läuft, kann es nicht bleiben. Und irgendwann, vielleicht schon bald, wird uns das auf die Füße fallen.
Celine Nadolny ist Gründerin und Geschäftsführerin von Book of Finance.