Risikomanagement im Wandel

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Evgeny Sorokin ist SVP bei Software Engineering Devexperts

Online-Trading erfreut sich wachsender Beliebtheit. Der Grund dafür, dass viele Broker ein erhöhtes Trading-Aufkommen verbuchen, sind die jüngsten internationalen Ereignisse. Die Krise hat viele Menschen arbeitslos gemacht – alternative oder vermeintliche Möglichkeiten, um an Geld zu kommen, oder einfach um sich zu unterhalten, sind hoch im Kurs. Für die Trading-Branche bricht damit eine neue Phase an, in der die Broker über den bisherigen Tellerrand hinausschauen müssen.

Das Interesse am Retail-Trading hat bereits vor der Coronakrise deutlich zugenommen: Nicht nur Krypto-Nachwuchstrader und Millennial-Nutzer von Vermögensmanagement-Apps strömen auf den Markt – auch eine neue Generation von Chart- und Fundamentalanalysten lernt gerade mit Hilfe von YouTube und anderen sozialen Medienplattformen, wie man mit Werten handelt.

Parallel zu dieser Entwicklung werden die Finanzmärkte immer zugänglicher. Die große Finanzkrise 2008 und die kurz darauffolgende Entstehung des Kryptowährungsmarkts haben ihren Teil dazu beigetragen, dass das allgemeine Bewusstsein für Finanzmärkte und ihre Funktionsweise heute größer ist.

Beide Ereignisse haben eine Do-it-yourself-Mentalität hervorgebracht: Mittlerweile hat die breite Masse der Bürger kein Problem mehr damit, ihre Finanzen selbst in die Hand zu nehmen und ihr Vermögen auf verschiedene Anlageklassen aufzuteilen. Noch vor zehn Jahren war es schwierig, einen Laien zu finden, der etwas von quantitativer Lockerung verstand. Jetzt scheint es so, als ob jeder eine Meinung über die globale Wirtschaftslage, die Maßnahmen der Zentralbank, die Bilanzausweitung und die Rolle von Gold und Kryptowährungen hätte.

Neue Trader, wachsende Anforderungen

Mit dem Wachstum der Branche steigt auch der Anspruch der Trader an die Risikomanagementstrategien der Broker.

In den frühen 2000er-Jahren boten die Broker lediglich eine Anlageklasse und eine Art des Risikomanagements an: das B-Book-Modell. Dann nahmen sie weitere Anlageklassen in ihr Portfolio auf, setzten auf das A-Book-Modell und wechselten schließlich zu hybriden Managementstrategien und Geschäftsmodellen.

Die Gründe sind in unvorhergesehenen Marktereignissen und den veränderten Ansprüchen zu suchen. In den 2010er-Jahren beispielsweise begannen die Trader, STP- und A-Book-Geschäftsmodelle zu bevorzugen. Doch dann machte das „Schwarze Schwan“-Ereignis – ausgelöst durch den Entscheid der Schweizerischen Nationalbank – die Schwächen des reinen A-Book-Konzepts deutlich. Es zwang viele Broker dazu, andere Optionen in Erwägung zu ziehen.

Die etablierten Unternehmen reagierten relativ träge, doch immer mehr agile Drittanbieter traten auf den Plan. Unter den Brokern entwickelte sich daraus eine Workaround-Kultur: sie statteten ihre veralteten Plattformen mit den neuen Plugins der Drittanbieter aus. So konnten ihre Lösungen Funktionen ausführen, für die sie ursprünglich nicht geschaffen waren.

Die Stunde der Drittanbieter

Die Branche wuchs und die Standardtools, die von den Plattform-Anbietern für das Risikomanagement angeboten wurden, stießen an ihre Grenzen. Sie waren irgendwann nicht mehr fähig, mit wachsenden Kundenzahlen, mehreren Servern und einem sich rasch verändernden regulatorischen Umfeld Schritt zu halten. Um diesen Bedarf zu decken, schoss eine ganze Industrie von Risikomanagement-Tools und -Plugins aus dem Boden: Diese reichten von relativ simplen Dealer-Plugins für das Swap- und Marginmanagement bis hin zu Bridges, die nicht für dieses Geschäftsmodell konzipierte Plattformen mit einer STP-Funktionalität ausstatteten.

Es ist nicht ungefährlich, sein Geschäft auf einer fremden Plattform zu gründen, und so entstand ein Katze-und-Maus-Spiel zwischen Plattformen und Drittanbietern: Dank ihrer Agilität konnten die Dienstleister in kürzester Zeit Lösungen entwickeln, die den vorhandenen Plattformen fehlten. Sie brachten anschließend ihre eigenen, offiziellen Versionen dieser Lösungen heraus.

Diese Situation barg Risiken für Drittanbieter wie Broker: Auf der einen Seite setzten sie auf Plattformen, die durch Fremdlösungen über ihre eigentliche Funktionalität hinaus strapaziert wurden. Auf der anderen Seite hingen ganze Branchensegmente davon ab, dass an dieser Situation nichts geändert wurde.

Immer häufiger wurden parallel zu den Softwarelösungen auch Risikomanagementservices von externen Dienstleistern angeboten. Auf diese Weise konnten Neueinsteiger ihre Energie auf den Aufbau eines Kundenstamms richten und ihre Risikomanagementpflichten nach außen verlagern.

Maßgeschneiderte Lösungen

Eine weitere interessante Entwicklung war die Entstehung einer neuen Art von Finanztechnologie-Unternehmen, die die Lücke zwischen den so genannten „Prime Brokern“ und den kleineren Startup-Brokern füllte. Sie boten Liquiditätsbereitstellungsdienste und Risikomanagementlösungen an – und machten in diesem Zusammenhang Begriffe wie „Prime-of-Prime“ und „maßgeschneidert“ populär.

Viele kleine Broker, für die die Kapitalausstattung von Prime Brokern unerreichbar war, hatten dadurch Zugang zu neuer Liquidität und vielen anderen geschäftskritischen Angeboten wie Risikomanagement-, Berichts- und CRM-Lösungen.

Schlüsselfertige, End-to-End- und Out-of-the-box-Lösungen waren der letzte Schrei. Jede beliebige Facette des modernen Broker-Angebots (oder eine gezielte Auswahl von Schlüsselkomponenten) konnte „von der Stange“ gekauft werden oder individuell an die vorhandene Infrastruktur angepasst werden.

Die neue Generation

Aktuell hält eine neue Phase Einzug, in der die Broker beginnen, andere Zielgruppen anzuvisieren. Das liegt zum Teil daran, dass sich die Klientel rasch verändert. Die Trader der Generation X, die die Branche in den vergangenen Jahrzehnten stark prägten, werden von den Millennials abgelöst.

Die Millennial-Trader sind nicht nur zahlenmäßig stärker als ihre Vorgänger, sie kommen jetzt auch in das Alter, in dem sie am meisten investieren. Sie verfügen zudem über die größte Kaufkraft in der Geschichte des Tradings. Damit ist die Branche reif für einen Umbruch im Hinblick darauf, wie die neuen Tradingplattformen aussehen könnten. Die gegenwärtige Phase ist eine interessante Zeit, denn auf beiden Seiten besteht die Notwendigkeit der Veränderung.

Broker benötigen heutzutage auf Backend-Seite sehr viel mehr Ressourcen, was Anlagearten, Liquiditätsquellen, Verarbeitungskapazitäten, Risikomanagementstrategien und – aufgrund der rasch wechselnden gesetzlichen Anforderungen – die Flexibilität der Berichtsinfrastruktur betrifft. Was die Kundenseite anbelangt, so sind die Ansprüche junger Trader ganz anders als früher. Die Geschäftsmodelle, die in den frühen 2000er-Jahren funktionierten, können nicht einfach mit einem „Lifting“ versehen und weitergeführt werden.

Etablierte Plattformen genießen bei der neuen Generation nicht das gleiche Ansehen wie früher. Die Millennial-Trader sind der Grund dafür, dass die User-Experience-Entwicklung im Laufe der letzten Jahre zu einer präzisen Wissenschaft wurde. Sie sind keine PC-Nutzer, sie sind Cloud-Konsumenten. Um sie zu gewinnen und zu binden, muss die App-Entwicklung ganz oben auf der Agenda stehen. Die neue Generation hat die Qual der Wahl und ist schnell bereit abzuspringen, wenn eine Oberfläche mangelhaft ist.

Zeit für Veränderungen

Funktionen anderer Anbieter in bewährte, alte Plattformen einzubinden ist eine Strategie, die irgendwann an ihre Grenzen stoßen musste. Nun gilt es, die seit Jahren bestehenden Backend- und Frontend-Probleme zu lösen, mit denen die Branche zu kämpfen hat.

Broker haben jetzt zudem die Gelegenheit, nicht nur Schwachstellen im Risikomanagement zu beheben, sondern auch eine User Experience zu entwickeln, die sich neue Trader wünschen.

Wie diese Plattformen aussehen sollen? Zum einen sollten sie ein effizientes Orderflow-Management gestatten, indem die Trader nach Gruppen, Instrumenten oder auch nach einzelnen Kunden segmentiert werden. Zum anderen sollten sie ein wirksames Risikomanagement ermöglichen, und zwar durch verschiedene Kombinationen von A-Book-, B-Book- und C-Book-Strategien, die sich jederzeit aktualisieren lassen. Und ebenso wichtig: eine ausgereifte User Experience, die der modernen Zeit alle Ehre macht.

Über den Autor

Evgeny Sorokin ist SVP of Software Engineeringbei Devexperts, einem Entwickler von Handelsplattformen und Finanzmarktdaten-Lösungen für private und institutionelle Kunden. Er verantwortet die Entwicklung und Durchführung verschiedener Projekte für den Finanzmarkt, bei denen es sich meist um Lösungen für das Trading- und Vermögensmanagement handelt. Bevor er zu Devexperts wechselte, arbeitete er bei verschiedenen Hightech-Unternehmen wie Quotix, (einer Tochtergesellschaft von FxPro), Spotware Systems und Intel Corporation. Vor seiner Tätigkeit im finanztechnologischen Bereich entwickelte Evgeny Sorokin Software für Telekommunikation, Kartographie, Frachtmanagement, Buchhaltung, Vertrieb und Marketing. Seine Stärke liegt in seinem umfassenden Wissen über technologische Trends und Innovationen sowie deren Implementierung in den Entwicklungsprozess.

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