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Schadenbearbeitung mit generativer KI: Zwischen Ernüchterung und Hype

Foto: Guidwire
René Schoenauer ist Director Produkt Marketing EMEA bei Guidewire.

Generative KI verändert die Versicherungsbranche, doch nach der anfänglichen Euphorie folgt nun die Ernüchterung. Welchen Handlungsspielraum Versicherer in der neuen Transformation der Schadenbearbeitung haben. Von René Schoenauer, Director Produkt Marketing EMEA bei Guidewire.

Generative KI verändert seit Jahren die Märkte – besonders die Versicherungsbranche, die stark von den Vorgängern generativer KI wie maschinellem Lernen profitiert hat. Gleichzeitig bewegen wir uns gerade durch das Tal der Tränen innerhalb der Hype-Kurve. Daher ist es nachvollziehbar, dass sich jene, die von der Idee der Revolution in der Schadenbearbeitung beflügelt waren, nun wieder nach festem Boden unter den Füßen sehnen.

Die Herausforderungen, die nun in vielen Automatisierungs- und Gen-AI-Projekten auftreten und den rasanten Fortschritt der Anfangsphase zum Erliegen bringen, sind keineswegs unüberwindbar. In vielen Fällen geht es um die Verwandlung der derzeit stattfindenden Schadenbearbeitung in die Version der Schadenbearbeitung von morgen, die zumindest in Teilen automatisiert ist.

Es verhält sich ähnlich wie in den frühen Jahren des Internets, so gravierend die Dot-Com-Bubble auch war: Das Internet als Innovation war deswegen nicht weniger revolutionär und transformativ. Doch welchen Handlungsspielraum haben Versicherer in der neuen Transformation der Schadenbearbeitung?

Innovation sollte dem Geschäft dienen

Zum einen müssen sich Stakeholder, die nicht direkt in die Umsetzung von Gen-AI-Anwendungen involviert sind, klar machen, dass der Wechsel von manueller zu automatisierter Schadenbearbeitung nicht auf Knopfdruck laufen kann. Selbst wenn bereits eine Lösung existiert, die automatisierte Schadenbearbeitung ermöglicht, müssen neben dem Zeitpunkt auch ganz konkrete Schadenfälle identifiziert werden, die die letzten manuellen und die ersten automatisierten Schadenfälle darstellen. Hierfür müssen komplett unterschiedliche Workflows geschaffen und digitale Infrastrukturen bereitgestellt werden.


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Sobald diese zwei Elemente existieren, müssen die jeweiligen Teams in den neuen Workflows und Tools geschult werden. Denn selbst eine vollautomatisierte Schadenbearbeitung muss immer noch einen Output generieren, mit dem Mitarbeiter umgehen können. Zunächst hört sich das nach einer Reihe an Investitionen für Versicherer an. Ganz falsch ist diese Sichtweise nicht, sie verkennt nur das langfristig mögliche Einsparpotenzial der Maßnahmen.

Wer Automatisierungsmaßnahmen aus einem Business-Blickwinkel sieht, denkt an die konkrete Umsetzung, die konkreten Schadenfälle, die automatisiert werden könnten. Und erkennt dabei auch die Herausforderungen. Versicherer, die es schaffen, diese Herausforderungen zu bewältigen, schaffen es, ihre individuelle Vision der Schadenbearbeitung von morgen ins Hier und Jetzt zu holen.

Innovation in die Praxis eingliedern

Um darzustellen, wie es aussieht, wenn aus Visionen der automatisierten Schadenbearbeitung funktionierende Workflows werden, eignet sich die Herangehensweise eines führenden Sachversicherers in Nordeuropa als gutes Beispiel: Eine enge Verzahnung der Schadensteams mit den IT-Teams stellte sich als Schlüsselelement der Transformation heraus. Digitale Schadenteams wurden gegründet, die damit beauftragt waren konkrete Schadenfälle digital zu bearbeiten und Automatisierung dabei möglichst einzugliedern.

Die Teams bestanden in der Regel aus Mitgliedern der klassischen Schadenteams, hatten jedoch auch mindestens ein Mitglied, das ursprünglich in IT-Teams war. Dabei wurden die genauen Hindernisse identifiziert und überwunden, die verhinderten, dass ein realer Schadenfall automatisiert wird. Innerhalb der digitalen Teams konnte durch die quasi interdisziplinäre Zusammenarbeit für die jeweiligen Probleme eine Lösung gefunden werden, die dann gesammelt den neuen Workflow für automatisierte und digitale Schadenbearbeitung darstellen.

Es geht um zwei Dinge gleichzeitig: Der Transfer von Vision zu etwas Greifbaren, aber auch um den Übergang von einer Herangehensweise zu einer neuen. Das wiederum bedeutet, dass Innovation betrieben und befeuert werden muss, während man Mitarbeiter diesbezüglich weiterbildet, oder umschult, und effektiv und transparent kommuniziert. Denn nicht jeder Mitarbeiter sieht nur die Vorteile generativer KI, bei vielen kommen Ängste auf. Diese zu adressieren muss Teil der Kommunikation des Transformationsprozesses sein. Jedoch dürfen weder Entscheider noch Mitarbeiter vergessen, dass die Schadenbearbeitung von morgen nicht ohne Bezug auf die heutige geht. Ist-Stand und Innovation müssen zuerst zusammengeführt werden, bevor Innovations-Projekte Früchte tragen können.

Generative KI als Bedrohung

Ganze Bereiche, die von generativer KI revolutioniert werden könnten, aber auch einzelne Mitarbeiter, die bislang am potentiellen Wandel nicht beteiligt sind, sind von ihm bedroht – zumindest in ihrer eigenen Wahrnehmung. So zeigen Ergebnisse einer Umfrage von Bitkom, dass mit 77 Prozent der Verlust von Arbeitsplätzen als größter Nachteil von KI am Arbeitsplatz gesehen wird. Es liegt an Entscheidern effektiv zu kommunizieren und diese Wogen zu glätten.

Im Idealfall macht man aus Skeptikern die größten Befürworter, denn das Potential von automatisierten Prozessen ist gerade für die Schadenbearbeitung groß: Zum einen werden die Prozesse digitaler und komplexer, während die Arbeitslast insgesamt reduziert wird. Zum anderen schafft die Automatisierung von simpleren Elementen der Schadenbearbeitung den nötigen Raum für Mitarbeiter, sich um komplexere Themen zu kümmern oder die Kundenbeziehung zu vertiefen.

Denn selbst wenn sich die Schadenbearbeitung zukünftig stark verändert, die Bedürfnisse von Versicherungsnehmern nach einer vertrauensvollen persönlichen Beziehung zu ihrem Versicherer bleiben gleich. So wird es langfristig von Vorteil sein, wenn die Schadenbearbeitung mehr Raum und Zeit hat, sich der menschlichen Dimension eines Schadensfalls zu widmen. Zusätzlich bieten die digitalen Workflows und dahinterliegenden Systeme auch Wachstumschancen für einzelne Mitarbeiter.

Jemand mit einem Hintergrund in der klassischen Schadenbearbeitung, kann sich durch Weiterbildung schnell zum Experten für die neuen Systeme und Abläufe wandeln. Ähnlich könnte es sich sogar unter Maklern verhalten: Jene, die sich gut mit generativer KI und ihren Anwendungsbereichen auskennen, können die Bedenken ihrer Kunden zu diesem Thema ausräumen und gleichzeitig die Vorteile gewinnbringend adressieren. Makler werden von der Automatisierung durch KI profitieren und bleiben gleichzeitig wichtige persönliche Ansprechpartner und Berater ihrer Kunden.

Am Wandel beteiligt sein

Für die Transformation der Schadenbearbeitung müssen Entscheider zum einen Raum schaffen und die nötigen Ressourcen bereitstellen, während gleichzeitig die Mitarbeiter in der Schadenbearbeitung nicht im Dunkeln gelassen werden. Strategien und Wachstumspläne und was diese genau für einzelne Mitarbeiter bedeuten, müssen transparent an die Belegschaft kommuniziert werden. Vertrauen muss vertieft werden, indem den Menschen, die die Schadenbearbeitung von heute darstellen, die Angst vor den großen Veränderungen in ihrem Bereich genommen wird.

Unternehmen, die nicht alle Mitarbeiter in den Transformationsprozess eingliedern können, haben aber immer noch Optionen: Weiterbildungen, Umschulungen und das Identifizieren neuer Rollen und Aufgabenbereiche zeigen Mitarbeitern ihren Platz im Unternehmen post-Transformation auf.

Versicherer, die es schaffen besorgte Mitarbeiter zu besänftigen und idealerweise gar für den Wandel zu begeistern, werden leistungsfähigere Teams aufstellen können, wenn es darum geht Innovation und Ist-Stand effektiv zu einen. Mitarbeiter müssen ihre Rolle in automatisierter Schadenbearbeitung sehen können, um sie nicht als Bedrohung wahrzunehmen. Gleichzeitig müssen die einzelnen Innovationsmaßnahmen dem heutigen Geschäft dienen, nicht dem Geschäft von morgen. Daher müssen Versicherer Silos aufbrechen, Kompetenzen verknüpfen und Raum schaffen, um Mitarbeitern alles Nötige an die Hand zu geben – fachlich und operativ – um die Brücke hin zu automatisierter Schadenbearbeitung zu schlagen.

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