Zu einer guten Regulierung gehört eine tiefgehende Expertise im betreffenden Schadenbereich – ohne Zweifel ist es etwas anderes, ob ein Schadenbearbeiter für private Motorkaskoschäden oder industrielle Gebäudeschäden, private Haftpflichtschäden oder Schäden in der gewerblichen Transportversicherung zuständig ist. In Abhängigkeit von den Spezifika der Versicherungsprodukte verändert sich auch der Schadenregulierungsprozess und die Fragestellungen können sich unterscheiden: Handelt es sich um einen Totalschaden am versicherten Fahrzeug? Entsteht durch den Gebäudebrand eine Lieferkettenunterbrechung?
Welche Herausforderungen hat das Versicherungsunternehmen?
Generell wollen Versicherer im Rahmen einer fairen Entschädigungsleistung die Aufwände der Schadenregulierung minimieren und dabei zusätzlich die Fälle schnellstmöglich abwickeln. Regulierungsprozesse, die jeden Tag tausende Male angestoßen werden, werfen immer wieder aufs Neue dieselben Fragen auf, etwa: Welche ist die angemessene Versicherungsleistung? Wer „repariert“ den Schaden meines Kunden am schnellsten und günstigsten? Wie kann ich externe Kosten minimieren, zum Beispiel ist ein Gutachten wirklich nötig? Wie kann ich meine internen Ressourcen optimal einsetzen? Handelt es sich womöglich um einen Versicherungsbetrug? Nachvollziehbar ist daher der Wunsch, einige dieser Aufgaben zu vereinfachen, ja zu automatisieren, um die Schadenbearbeiter zu unterstützen.
Was bedeutet Schadenregulierung für den Versicherten?
Für den Versicherten ist der Prozess der Schadenregulierung zunächst einmal stressig. Er befindet sich in einem Moment großer Unsicherheit und ist – im Gegensatz zum Versicherer – mit dem gesamten Prozess in der Regel nicht vertraut. Neben dem Wunsch nach einer Entschädigung bzw. der Zusicherung der Regulierung des gemeldeten Schadens strebt er vor allem nach einer klaren Aussage: Analysen haben gezeigt, dass Versicherte mit einer schnellen Ablehnung eines Schadens „zufriedener“ sind als mit einer langwierigen Diskussion, in deren Verlauf sie zusätzliche Dokumente einreichen und Stellungnahmen abgeben müssen. Diesen Wunsch der Kunden müssen Versicherungsunternehmen ernst nehmen und bedenken, dass gerade im Rahmen der Schadenbearbeitung Wert geschaffen oder vernichtet wird – Kundenzufriedenheit. Aus dieser folgt ein Reputationsgewinn, der sich im Neugeschäft schnell positiv widerspiegeln kann.
Kann Künstliche Intelligenz Versicherern weiterhelfen?
Mehr Kundenzufriedenheit, bessere Reputation, mehr Neugeschäft, …: „Gibt es da nicht auch etwas von KI?“
Das wichtigste Ziel ist die Unterstützung der Schadenbearbeiter bei ihren originären Aufgaben und die Bereitstellung von Informationen zur Entscheidungsfindung. Hier spielt KI bereits heute eine wichtige Rolle, zum Beispiel im Rahmen smarter Chatbots, die dem Nutzer zunehmend das Gefühl geben, mit einer realen Person zu kommunizieren – sympathische Namen sind hier nur eine Maßnahme. Auch in der Zukunft darf man diesbezüglich weitere Fortschritte erwarten, aber sollte das alles sein? Nein! Die etablierten Möglichkeiten von cleveren Algorithmen, anspruchsvollen Entscheidungsmodellen und smarten Machine-Learning-Verfahren sind noch lange nicht ausgereizt.
Wo sollten Versicherer anpacken und welche Möglichkeiten sollten sie eruieren?
Basis für jede KI sind Daten: Das strukturierte Erheben und Sammeln von Daten ist eine Grundvoraussetzung für jede Art von Verbesserung. Hier haben viele Unternehmen schon deutliche Fortschritte gemacht. Und darauf bauen weitere Themen auf: Teamwork, Modellierung und Automatisierung.
Aber mit welchen Schäden sollten wir starten? Das Massengeschäft – also Sparten wie Kraftfahrzeug, Haftpflicht oder auch Wohngebäude – bietet sich hierzu besonders an, da viele Schäden ähnlich sind.
Zunächst gilt es, sich auf Teamwork zu fokussieren – alle müssen verstehen, welche Fragen den Schadenbearbeiter umtreiben und nach welchen Antworten er sucht. Aber wer sind „alle“? Das sind besonders die Schadenbearbeiter selbst, Datenexperten (neudeutsch Data Scientist), Automatisierungsexperten und Aktuare (Versicherungsmathematiker). Der Schadenbearbeiter (oder nur der „Prozess“, wenn der Kunde die Informationen hochlädt) nimmt Daten entgegen, die anschließend effizient verarbeitet werden.
Diese Daten werden automatisiert angereichert mit externen Informationen (beim Kaskoschaden etwa mit dem tagesaktuellen Wert des Autos, aber auch Wetterinformationen am Schadenort zum Schadenzeitpunkt). Unter Verwendung solcher Informationen können die Aktuare Entscheidungsmodelle erstellen, die dem Schadenbearbeiter zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit für einen Totalschaden liefern oder für einen Versicherungsbetrug („Ich wurde von der Sonne geblendet“, obwohl der Himmel zum Schadenzeitpunkt vollständig mit Wolken bedeckt war).
Hierbei ist die Automatisierung relevant: Sobald der Schadenbearbeiter (oder der Versicherte) die Informationen eingegeben hat, läuft im Hintergrund ein komplexer Prozess, der dem Schadenbearbeiter innerhalb von Millisekunden die Antworten auf seine Fragen präsentiert. Auf Basis derer kann er dann seine Entscheidungen treffen. Sollte das Modell beispielsweise die Information liefern, dass es sich mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit um einen Totalschaden in der Kaskoversicherung handelt, so kann der Versicherer dem Kunden unmittelbar eine geeignete Entschädigung anbieten und sich um die Verschrottung des Fahrzeugs kümmern.
Was bedeutet das für den Versicherungsnehmer? Der Wunsch nach schneller und fairer Abwicklung wird durch die beschriebene Automatisierung vorangetrieben und das „Versicherungserlebnis“ verbessert sich. Aber auch eine Aufdeckung von Betrugsfällen ist im eigentlichen Interesse des Versicherten, denn er finanziert jeden Versicherungsbetrug durch seine Prämie mit, ein Thema, das gerade in der privaten Haftpflichtversicherung nicht zu unterschätzen ist.
Also machen wir uns auf den Weg, die Schadenregulierung zu optimieren – hier ist für jeden etwas drin.
Bastian Kurth ist ICT Middle East Practice Leader bei WTW.