Eine alte Börsenweisheit lautet: Sell in May and go away. Allerdings bestätigen auch immer Ausnahmen die Regel. Für dieses Jahr sind einige Experten unterschiedlicher Meinung über den weiteren Kursverlauf.
Philipp Dobbert, Chefvolkswirt der quirin bank AG: „Die Anhänger der Börsenweisheit „Sell in May and go away“ könnten in diesem Jahr erneut eine herbe Enttäuschung erleben. Denn nach wie vor ist das dominierende Thema an den Aktienmärkten die Notenbankpolitik und damit zusammenhängend das Niedrig- bzw. Niedrigstzinsumfeld.
Börsenweisheiten eignen sich nicht
Bundesanleihen beispielsweise rentieren aktuell bis in die neunjährige Laufzeit hinein negativ. Vor dieser „Welt ohne Zinsen“ flüchten viele – auch professionelle – Anleger vor allem in die Aktie und treiben damit die Kurse. Da die EZB diese geldpolitische Haltung aktuell noch einmal deutlich verstärkt hat, könnte sich im Bereich der Aktien wieder ein Aufwärtstrend – unter Schwankungen – etablieren. Mai-Verkäufer wären die Leidtragenden.
Aber natürlich sind auch Risiken denkbar, etwa im Hinblick auf die nach wie vor nicht vollständig robuste Weltkonjunktur. Hier wird deutlich: für den strategischen und planbaren Vermögensaufbau eignen sich Börsenweisheiten rund um die vermeintlich „richtigen“ Ein- und Ausstiegszeitpunkte nicht.
Viel entscheidender ist eine langfristig ausgelegte, an die eigene Risikotragfähigkeit und Renditeerwartung angepasste, breit diversifizierte Investition in die internationalen Aktien- und Anleihemärkte. Die prognosefreie Ausnutzung systematischer Renditetreiber bei gleichzeitig disziplinierter Schwankungsbegrenzung durch Rebalancings ist maßgeblichen Studien der Kapitalmarktforschung zufolge der überlegene Weg – fernab von Börsenweisheiten und anderen „todsicheren“ Renditequellen.“
„Risiken á la Brexit nicht vergessen“
Robert Greil, Chefstratege Merck Finck & Co, Privatbankiers: „Nachdem der DAX in seinem historisch betrachtet zweitstärkste Monat, nämlich April, dieses Mal bärenstark war, müsste er eigentlich in seinem zweitschlechtesten Monat, dem Mai, wieder Federn lassen.
Tatsächlich spricht derzeit einiges dafür: Nach der jüngsten Rallye sind die zumeist bereits ambitioniert bewerteten Aktienmärkte etwas „überkauft“, wir nähern uns charttechnischen Widerständen in vielen Indizes und wir dürfen auch Risiken á la Brexit nicht vergessen. Andererseits sind Rezessionsängste größtenteils verflogen und die Deflationsängste nehmen dank stabilerer Makrodaten und Rohstoffpreise ab. Auch China sieht wieder besser aus.
Nicht zuletzt erwarten wir gerade in Euroland eine weiterhin solide Quartalssaison auf Unternehmensseite. Wir sehen daher den DAX im Mai erst einmal stabiler als dies die alte Börsenregel nahelegt. Mit zunehmendem Monatsverlauf dürften aber Spekulationen über Ereignisse im Juni die Märkte belasten: Hier sind vor allem eine mögliche US-Leitzinsanhebung bei der Fed-Sitzung am 15. Juni und das Brexit-Referendum am 23. Juni zu nennen.“
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„Anstatt blind Börsenweisheiten zu folgen, sollten Anleger lieber auf die Faktenlage schauen“
Marcel de Gavarelli, Investment Manager der Laureus AG Privat Finanz:
„Die „Sell in May-Weisheit“ basiert in erster Linie darauf, dass Anleger in den ersten Börsenmonaten des Jahres bereits Gewinne aufgebaut haben und diese dann vor dem Sommerloch mitnehmen möchten. Aktuell hätte ein Investor, der beispielsweise zum Jahresbeginn 2016 beim DAX eingestiegen ist, nicht einmal die Nullstelle erreicht. Es stellt sich also die Frage, ob überhaupt die Grundlage für ein Handeln hiernach erfüllt ist.
Anstatt blind Börsenweisheiten zu folgen, sollten Anleger deshalb lieber auf die Faktenlage schauen. In den nächsten Wochen kommen auf die Anleger eher Risiken von der (geld)politischen Seite zu. Diese sind allerdings kein zwingender Grund, das Portfolio komplett umzustrukturieren.
Aufgrund der hohen Volatilität und der Illiquidität an den Märkten sollten Investoren sicherlich auf der Hut bleiben und ihr Portfolio aktiver managen. Grundsätzlich bevorzugen wir jedoch einen mittel- bis langfristigen Anlagehorizont, weshalb wir keine Befürworter von ständigen, „großflächigen“ Umschichtungen sind.“