Die digitale Transformation war bereits vor der Pandemie ein Megatrend. Die vergangenen 18 Monate wirkten wie ein Katalysator für den technologischen Umbruch. Wo liegen die zentralen Herausfordungen für die Versicherer?
Schmidt-Gallas: Covid-19 ist zu einem Turbo für die Digitalisierung geworden – auch und vor allem im Versicherungssektor. Die ansonsten mitunter schwerfällige Branche hat im vergangenen Jahr erstaunlich schnell auf die Corona-Krise reagiert. Viele Versicherer haben bei der Digitalisierung plötzlich Dinge innerhalb von zwei Wochen hinbekommen, die vorher zwei Jahre gedauert hätten.
Allerdings bleiben die Ergebnisse der digitalen Transformation in vielen Fällen noch hinter den Bedürfnissen und Erwartungen der Versicherungskunden zurück. Die Versicherer sollten viel stärker als bislang auf die geänderten Nutzungsgewohnheiten der Verbraucher reagieren.
Mit Covid-19 sind die Online-Einkäufe und die Nutzung von Online-Services innerhalb kürzester Zeit nach oben geschnellt. Viele Verbraucher haben sich quasi im Zeitraffer an das digitale Einkaufs- und Serviceerlebnis gewöhnt und es schätzen gelernt.
Versicherer müssen die neue Kundenschnittstelle jetzt ausbauen und weiter in die Digitalisierung investieren. Potenzial, das die Versicherer bei weitem noch nicht ausgeschöpft haben, sehe ich insbesondere bei der Entwicklung von Ökosystemen, der ganzheitlicheren Nutzung und Analyse von Daten sowie verstärkten digitalen Kontaktstrategien. Wichtig ist dabei aber, den Vermittler weiterhin im Fokus zu behalten.
Es gilt, die Beratung nicht durch digitale Tools zu ersetzen, sondern vielmehr die Beratungsqualität durch den Einsatz digitaler Technologien zu verbessern. Denn eines ist sicher: Empathische Fähigkeiten sind in diesen Zeiten mehr gefragt denn je.
Lange Zeit wurde ein Bild von den Insurtechs als den „jungen Wilden“ gezeichnet, die etablierte Versicherer herausfordern Von einer Flutwelle, die etablierte Versicherer in Bedrängnis bringt, sind wir weit entfernt. Welche Rolle spielen die Insurtechs für die digitale Transformation heute in der Branche?
Gehrig: In der Tat lockt der europäische Versicherungsmarkt nach wie vor ambitionierte Insurtechs an. Allerdings fällt ihnen ein erfolgreicher Markteintritt mitunter schwerer als von den Unternehmen vorher gedacht. Häufig hinken die Prämienvolumina den Business-Plänen hinterher. Hintergrund ist, dass der Versicherungsmarkt saturiert und sehr wettbewerbsintensiv ist.
Neben den großen Versicherern als Platzhirschen in etablierten Vertriebskanälen tummeln sich auch zahlreiche Digitalversicherer oder Aggregatoren im Markt. Dagegen haben es Newcomer ohne Markenbekanntheit schwer – vor allem, wenn sie auf Vertriebspartnerschaften verzichten. Vertriebspartnerschaften können für eine erfolgskritische Größe für Neueinsteiger sorgen. Mit den passenden Partnerschaften und der Integration in Vergleichswebsites oder Online-Shops können Neueinsteiger ihre Stärken besser ausspielen und zusätzliches Prämienvolumen generieren.
Generell spielen Insurtechs natürlich eine wichtige Rolle bei der Digitalisierung der Versicherungswirtschaft. Denn durch ihren Markteintritt wird der Wettbewerb um die besten digitalen Versicherungslösungen und die besten Vertriebsstrategien in einer zunehmend digitaleren Welt verschärft.
Die traditionellen Versicherungshäuser sind herausgefordert, ihre digitalen Strategien zu forcieren. Sie lernen Schritt für Schritt von den Neusteigern und werden selbst immer digitaler.
Eine Studie von Oliver Wymann sagt, dass der Trend zum Financial Homes das Potenzial habe, die etablierten Beziehungen zwischen Anbietern und Kunden in der Finanz- und Versicherungsbranche aufzubrechen und die Marktanteile neu zu verteilen. Die neuen Technologien schüfen smarte, vernetzte Ökosysteme beziehungsweise Plattformen, die diese Kundenbedürfnisse adressierten. Wären in dieser Welt Versicherungen nicht austauschbar?
Gehrig: Zunächst ist bei diesem Thema der Blick auf den Status Quo interessant. Das Thema Ökosysteme gilt in der Versicherungsbranche zwar schon lange als wichtiger Trend – wirkliche Erfolge stellen sich bisher jedoch nicht ein, zumindest nicht auf dem deutschen Markt.
So zeigen die Statistiken des GDV, dass der Großteil der Umsätze über die klassischeren Kanäle wie Agenten, Makler, Aggregatoren oder Call Center generiert werden – der Umsatz aus Ökosystemen liegt hingegen noch bei unter fünf Prozent.
Dabei ist das Potenzial groß – das zeigt der Blick auf die großen Player Facebook, Amazon oder Airbnb. Das muss allerdings nicht bedeuten, dass in dieser Welt die Versicherer austauschbar werden. Im Gegenteil. Es kommt vielmehr darauf an, dass der Versicherer sein eigenes Ökosystem aufbaut. Das wird am Beispiel Ping An anschaulich.
Der chinesische Versicherer hat mit einer medizinischen Beratungsplattform, einer Immobilienbörse und einem Gebrauchtwarenmarkt gleich drei Plattformen geschaffen, in denen der Versicherer eine führende Position einnimmt.
Natürlich ist dieses Beispiel nicht für alle Versicherer umsetzbar. Es gilt jedoch, sich frühzeitig strategisch zu positionieren, um die bestehenden Wachstumspotenziale auszuschöpfen. Denn die Entwicklung zeigt klar, wo es hingeht. Auch innerhalb Europas nimmt die Anzahl von Plattformen und Ökosystemen im Versicherungssektor zu. Aus unserer Sicht ist dies allerdings eine Ergänzung und kein vollständiger Ersatz für existierende Vertriebswege.
Die klassischen Kanäle wie Agenten, Makler, Aggregatoren, Call Center und der Online-Vertrieb über die Unternehmens-Webseite bleiben wichtig, um die Kunden in ihrer Lebenswirklichkeit abzuholen. Es kommt auf den richtigen Mix an.