Führen Ökosysteme letztlich nicht zur Abkehr vom klassischen Spartendenken?
Gehrig: Nicht unbedingt. Es macht aus unserer Sicht Sinn, die Ökosysteme auf bestimmte Sparten auszurichten. Die dänische Lebens- und Krankenversicherungsgesellschaft Danica Pension zum Beispiel hat ein erfolgreiches Ökosystem speziell zum Thema Gesundheit geschaffen.
Das Prinzip: Unternehmen wählen bei Danica aus Gesundheitspaketen aus, welche zu den Bedürfnissen ihrer Mitarbeiter passen. Zu diesen Paketen gehören unterschiedliche Services, die von Drittanbietern auf dem Marktplatz angeboten werden.
Die Mitarbeiter können dann wie in einem App-Store auf unterschiedliche Angebote wie Fitnesstrainings oder Meditationsübungen zugreifen. Bei ausreichender Nutzung und Kunden können die Drittanbieter und Mitarbeiter monetarisiert werden – einige Services werden für die Endkunden im Paket des Arbeitnehmers inbegriffen sein, andere kosten zusätzliche Gebühren.
Mobile First, On-Demand, One-Click, Omni-Channel-Kommunikation: Hier denkt man an Google, Amazon, Apple und Co. Die Konzerne wissen, wie Kundenschnittstellen richtig besetzt werden, sie verstehen datenbasierte Prozesse und Geschäftsmodelle. Sind die Tech-Unternehmen Konkurrenten oder doch eher Partner?
Schmidt-Gallas: In der Tat gibt es bei Versicherern in puncto Omnichannel-Strategien noch Luft nach oben. Alte Vertriebsweisheiten wie ‚Versicherungen werden verkauft und nicht gekauft‘ sind nicht mehr aktuell. Wenn sich Versicherer stärker mit dem Leben ihrer Verbraucher beschäftigen und darauf lösungsorientiert reagieren, können sie bisher ungenutzte Nachfragepotenziale gezielt heben.
Das Versicherungsgeschäft ist von Natur aus ein Omnichannel-Geschäft. Verbraucher wünschten sich heute, auf genau dem Kanal Informationen über Produkte zu erhalten, der für sie am bequemsten ist. Das trifft vor allem auf junge Verbraucher zu. Die Customer Journey besteht also standardmäßig aus einer Mischung aus Off- und Online-Kanälen. Das können Versicherer zielgerichtet nutzen.
Zum Beispiel, indem sie Interessenten zum richtigen Zeitpunkt genau den Kanal anbieten, der auch für die eigene Wertschöpfungskette ideal geeignet ist. Dafür müssen Offline-Vertrieb und Digitalgeschäft als Einheit gedacht werden. Versicherer beschränken sich zu häufig auf den traditionellen Offline-Vertrieb. Allein: Es sind keine zwei unabhängigen Kanäle mehr, sondern zwei Komplemente, die einander ergänzen.
Nicht wenige Versicherer haben den Anspruch, kundennah wie die Techunternehmen zu sein. Wie gut sind die Gesellschaften beim Thema Kundenzentrierung und Datenanalyse aufgestellt?
Gehrig: Ich bin zuversichtlich, dass die Unternehmen den Umbruch schaffen. Sie müssen beim Thema Digitalisierung allerdings den Turbo einschalten oder – besser noch – auf Warp-Geschwindigkeit gehen. Das gilt insbesondere für die intelligente Nutzung von Daten. Beim Machine Learning lassen Versicherer noch viel Potenzial ungenutzt.
Die Mehrheit der Use-Cases im Bereich Machine Learning beschränkt sich bei Versicherern auf die Einsparung von Kosten oder die Abwehr von Betrugsversuchen. Neben diesen wichtigen Punkten liegt das viel interessantere Potenzial allerdings in der Top Line-Optimierung – und dieser Motor, der den Umsatz ankurbelt, kommt in der Versicherungsbranche bislang kaum zum Einsatz.
Dabei kann der intelligente und zugleich verantwortungsvolle Dateneinsatz sowie die ständige Generierung von neuem künstlichem Wissen den Versicherern in der Top Line-Optimierung vielversprechende Booster für ihr Business bieten: Mit Hilfe von Machine Learning und künstlicher Intelligenz können Versicherer Kunden viel zielgerichteter die passenden Produkte anbieten, sobald sich deren Lebenssituation ändert.
Zudem sind Versicherer aufgrund der Daten, die ihnen ohnehin schon vorliegen oder sie in der Interaktion mit den Kunden sammeln können, in der Lage, den Kunden bessere Produktempfehlungen zu geben. Zudem kommt es auf eine personalisierte Interaktion an.
Das große Thema in der Versicherungswirtschaft ist derzeit, Websites und Sales-Tools so neu zu strukturieren, dass von vornherein erkannt wird, zu welcher Kundengruppe der Verbraucher gehört. Dazu gehört auch, für die jeweilige Person eine stärker personalisierte Customer Journey zu kreieren.
Erfolgreiche Online-Händler machen das schon seit Jahren. Versicherer, die ihre Websites und Verkaufs-Tools ebenfalls entsprechend optimieren, können sich bei der Neukundengewinnung und bei der Bindung bestehender Kunden große Wettbewerbsvorteile verschaffen.