Die wirtschaftliche Lage in Europa hat sich in den letzten Wochen dramatisch verändert. Welches Szenario erwarten Sie für das 2. Quartal und wie sehen die Bedingungen aus?
Die aktuellen geopolitischen Spannungen führen zu einer erheblichen makroökonomischen Unsicherheit, wobei die größten Sorgen die möglichen Auswirkungen eines plötzlichen Stopps der Gasimporte aus Russland und der daraus resultierende Inflationsschock sind. Das zweite Quartal wird ein wichtiges für Europa sein: Eine rasche Lösung des Konflikts könnte dazu beitragen, eine Verlangsamung zu vermeiden, und eine vollständige Wiedereröffnung nach Covid unterstützt ebenfalls die wirtschaftliche Dynamik; wir werden auf Hinweise von Verbrauchern und Unternehmen achten, wie sie mit dem wachsenden Inflationsdruck umgehen. In der Hoffnung auf ein Ende des Krieges und ein Nachlassen des Inflationsdrucks bleiben wir konstruktiv.
Wie hoch ist Ihrer Meinung nach die Wahrscheinlichkeit einer Rezession? Welche Argumente können Sie dafür anführen?
In Anbetracht des starken Wirtschaftswachstums, das zu Beginn des Jahres in Europa erwartet wird (4 % BIP-Wachstum), und der Impulse des Konjunkturprogramms dürfte Europa in der Lage sein, eine Rezession zu vermeiden, solange der Gasfluss nicht unterbrochen wird, d. h. Europa könnte einige Quartale lang höhere Rohstoffkosten verkraften. Es gibt noch mehrere andere Faktoren, die die Wirtschaft stützen, wie z. B. die starken Unternehmensbilanzen, die hohe Kapitalisierung des Bankensektors, die geringe Verschuldung der privaten Haushalte und eine niedrige Lohninflation, die der EZB im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten mehr Spielraum für Interventionen zur Unterstützung der Wirtschaft gibt.
Gilt dies für alle Länder Europas?
Nicht alle europäischen Länder sind in gleichem Maße vom Gas abhängig, und nicht alle Länder haben die gleiche Wirtschaftsstruktur. Die Auswirkungen einer Rezession könnten Italien und Deutschland stärker zu spüren bekommen, die beide in hohem Maße vom russischen Gas abhängig sind und deren Wirtschaft stark mit dem Industriesektor verknüpft ist. Andere Länder könnten geringfügig besser abschneiden: Frankreich verfügt über mehr interne Energiequellen, und Volkswirtschaften wie die Schweiz haben eine andere Wirtschaftsstruktur und sind weniger von Sektoren abhängig, die unter hohen Energiekosten leiden könnten.
Was bedeutet Ihre Einschätzung für die Aktienmärkte – welches Potenzial sehen Sie hier?
Die europäischen Aktienmärkte haben sich angesichts des Krieges und des Energieschocks als recht widerstandsfähig erwiesen. In Anbetracht der niedrigen Bewertungen und unserer Erwartung, dass ein Energieschock vermieden werden kann, halten wir das Potenzial für eine wesentliche Korrektur für begrenzt; die Volatilität wird jedoch erhöht bleiben, bis das Wirtschaftsszenario sicherer wird. Die interessanteren Gelegenheiten bieten sich wahrscheinlich auf Sektorebene angesichts der großen Leistungsunterschiede zwischen den verschiedenen Branchen.
Gibt es Branchen oder sogar Länder, die Anleger vorerst meiden sollten?
Obwohl der Sektor bereits unterdurchschnittlich abgeschnitten hat, sind wir weiterhin besorgt über zyklische Konsumgüter, da die Auswirkungen der hohen Energiepreise vor allem die Ausgabenbereitschaft der Haushalte beeinträchtigen könnten. Auch der Bau- und Baustoffsektor könnte aufgrund der hohen Energieintensität seiner Produktionsprozesse Probleme bekommen.
Welche Branchen/Sektoren dürften von dem veränderten Umfeld profitieren?
Während Energie und Grundstoffe von dem derzeitigen Preisanstieg profitiert haben, sehen wir die Werkstoffe günstiger, da viele Industriemetalle für die Energiewende von entscheidender Bedeutung sind, die sich nach dem Konflikt wahrscheinlich weiter beschleunigen wird. Wir glauben auch, dass ein Teil des Industriesektors mittelfristig von einem neuen Investitionszyklus profitieren könnte, der auf die Verbesserung der Energieversorgung in Europa abzielt, sowie von der Verlagerung eines Teils der Produktionswertschöpfungskette nach den erheblichen logistischen Herausforderungen der letzten zwei Jahre.
Ist es bereits an der Zeit, neue Positionen aufzubauen – oder ist es besser, noch ein wenig zu warten?
Kurzfristig wird die Volatilität wahrscheinlich hoch bleiben, aber Teile des Marktes haben bereits begonnen, ein rezessives Umfeld einzupreisen, insbesondere bei zyklischen Titeln. Wir würden vorschlagen, jetzt mit dem Aufbau von Positionen zu beginnen, mit dem Gedanken, dass wir später im zweiten Quartal einige der besten Gelegenheiten sowohl an den Märkten als auch bei bestimmten Aktien sehen könnten.
Wie schätzen Sie die Aussichten von Sachwerten gegenüber Finanzwerten ein?
Solange die Inflation hoch bleibt, ist es wahrscheinlich, dass die Performance von realen Vermögenswerten der von Finanzwerten überlegen sein könnte – das sehen wir bereits bei der Lebensmittelinflation, den Hauspreisen und dem Anstieg der Ölpreise. Wir sind jedoch der Ansicht, dass der Inflationsdruck in den nächsten Quartalen nachlassen könnte, da sich die Engpässe in der Lieferkette verbessern und der Krieg hoffentlich zu Ende geht, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass die Preise wieder auf das Niveau der letzten Jahre zurückkehren. Daher dürften sich Sachwerte weiterhin gut entwickeln, auch wenn die Märkte in diesem Szenario besser abschneiden könnten.
Wie haben Sie mit Ihrem Fonds, dem Eurizon Fund – Top European Research, auf die jüngsten Marktentwicklungen reagiert?
Wir haben damit begonnen, das Engagement in Rohstoffen, insbesondere im Energiesektor, schrittweise zu reduzieren, da wir davon ausgehen, dass eine Lösung des Konflikts die Preise sinken lassen könnte. Außerdem haben wir die zyklische Ausrichtung über den Industriesektor erhöht, um ein Engagement in einem potenziellen neuen Investitionszyklus zu erhalten, der durch die Energiekrise ausgelöst werden könnte.
Wie schätzen Sie die weiteren Aussichten für das Gesamtjahr ein?
Die Märkte bieten immer gute Anlagemöglichkeiten, und die Volatilität dürfte Stockpickern gegenüber Indexfonds zugute kommen; wir bleiben insgesamt konstruktiv für die Aktienmärkte.