Union Investment: Kapitalmärkte bleiben dieses Jahr unsicher

Dr. Frank Engels
Foto: Union Investment
Dr. Frank Engels, Union Investment: "Die Inflation ist auf einen nachhaltigen, aber flachen Abwärtspfad eingeschwenkt.“

"An den Kapitalmärkten steht uns ein unsicheres zweites Halbjahr 2023 bevor. Aber dann wird es besser.“ Damit rechnet Dr. Frank Engels, der im Vorstand von Union Investment das Portfoliomanagement für Wertpapiere verantwortet.

„Die Schlüsselfaktoren Inflation, Geldpolitik, Finanzmarktstabilität und Konjunktur prägen das Marktumfeld. Erwartungssicherheit bei diesen vier Punkten sind die Voraussetzung für nachhaltige Anstiege bei Risikoanlagen – und die haben wir aktuell noch nicht“, begründet er seine Einschätzung. Je näher der Jahreswechsel, umso stärker sollte die Unsicherheit jedoch zurückgehen. „Die Zeit arbeitet also für chancenorientierte Anlagen. In der Zwischenzeit sind Aktivität und eine gezielte Titelauswahl gefragt.“

Im Vergleich zum Jahresstart sieht Engels Fortschritte bei der Inflation. „Der Preisdruck hat nachgelassen, wenn auch nicht überall in gleichem Ausmaß“, analysiert der promovierte Volkswirt. „Die Inflation ist auf einen nachhaltigen, aber flachen Abwärtspfad eingeschwenkt.“ Einen Schritt voraus sind seiner Einschätzung nach die USA bei der Inflationsbekämpfung. Hier sieht Engels den Höhepunkt nicht nur bei der Gesamtrate, sondern auch bei der weniger schwankungsanfälligen Kernrate ohne Nahrung und Energie klar überschritten. „In den Vereinigten Staaten werden wir in der zweiten Jahreshälfte wieder Kernraten unter 4 Prozent sehen“, prognostiziert Engels. Anders schätzt er die Lage im Euroraum ein. „Die Güterpreise steigen zwar kaum noch, aber im Dienstleistungssektor ist der Preisdruck nach wie vor hoch. Das wird sich erst ab dem Spätsommer schrittweise ändern.“ In der Jahresrate rechnet er für 2023 in der EU mit einer Teuerung von 5,8 Prozent, die sich im Folgejahr auf 2,9 Prozent verringern dürfte. 

Ende der Leitzinsanhebungen nicht mehr weit

Beim Schlüsselfaktor Inflation ist also noch keine Zeit für Entwarnung, aber die Zeichen stehen auf Entspannung. Damit ist auch der Handlungsdruck auf die Notenbanken gesunken. Besonders für die Federal Reserve (Fed) in den USA sieht Engels keinen Grund mehr für anhaltende Leitzinsanhebungen. „Der Job der Fed ist weitgehend erledigt“, fasst er zusammen. Es ist noch ein letzter Zinsschritt um 25 Basispunkte zu erwarten. „Danach wird die Fed bis zum Jahresende pausieren und ihre Straffungen wirken lassen.“ So weit ist es im Euroraum noch nicht. Zwar hat auch die Europäische Zentralbank (EZB) die Leitzinsen bereits deutlich angehoben. Allerdings ist hier der Inflationsdruck nach wie vor hoch. „Die EZB wird voraussichtlich mit zwei weiteren Zinsschritten um jeweils 25 Basispunkte nachlegen“, ist Engels überzeugt.

Danach dürfte auch in der Währungsunion eine Pause eintreten. „Das Ende der Leitzinsanhebungen ist auf beiden Seiten des Atlantiks nicht mehr weit“, resümiert er. „Je klarer wird, dass der Höhepunkt bei den Leitzinsen überschritten ist, umso besser sind die Aussichten für Risikoanlagen.“

Finanzmarktstabilität durch Bankenkrise nicht gefährdet

Im ersten Halbjahr 2023 hat auch der Kollaps mehrerer Banken die Märkte belastet. Der starke Zinsanstieg in Verbindung mit der konjunkturellen Abkühlung traf Finanzinstitute mit fragilem Geschäftsmodell hart, insbesondere in den USA. Auch wenn die Folgen zuletzt nicht mehr akut auf den Kapitalmarkt wirkten, so bleibt das Thema nach Einschätzung von Engels doch auf der Agenda: „Ganz ausgestanden ist die Krise noch nicht. Punktuell kann der relativ starke und rasche Zinsanstieg der letzten 20 Monate zu Problemen in einzelnen Segmenten des Finanzsystems führen.“ So ist es beispielsweise durchaus möglich, dass weitere Regionalbanken in Schieflage geraten. Eine Gefahr für die Finanzmarktstabilität sieht er jedoch nicht. „Das Bankensystem ist insgesamt robust, sowohl in den USA als auch in Europa. Zudem haben Regierungen, Notenbanken und Regulierungsbehörden ihre Fähigkeit demonstriert, mit solchen Krisen erfolgreich umzugehen.“ Er rechnet damit, dass auch im Wiederholungsfall das schnelle und entschlossene Handeln der Entscheidungsträger die Ausbreitung einer Bankenkrise verhindern werden. „Die Finanzmarktstabilität ist derzeit nicht gefährdet.“ 

Strengere Kreditvergabe, aber keine Kreditklemme

Allerdings wäre ein Wiederaufflammen der Krise ein Belastungsfaktor für die Kapitalmärkte. Gleichzeitig ist der konjunkturelle Effekt aus der Bankenkrise in den USA derzeit noch offen. Denn: „Angeschlagene Banken vergeben weniger Kredite und bremsen somit das Wachstum“, analysiert Engels. Zwar sind in den USA sowohl Kreditangebot als auch -nachfrage als Folge der strikteren Geldpolitik und der schwächeren Konjunktur bereits seit geraumer Zeit rückläufig. Eine zusätzliche, deutliche Verschärfung der Kreditvergabestandards könnte aber die Konjunktur weiter in Richtung Rezession treiben. „Wie stark dieser Bremseffekt ausfallen wird, ist derzeit völlig offen“, gibt Engels zu bedenken. Damit bleibt das Thema vorerst ein Unsicherheitsfaktor für die Märkte. 

Wirtschaftliche Stagnation in den USA und Europa

Dies gilt umso mehr, als die weltweite Konjunktur zunächst schwach bleibt. „In den USA und im Euroraum stagniert das Wachstum weitgehend für den Rest des Jahres“, fasst Engels zusammen. Vor allem die raschen Zinsanhebungen belasten. „Dreh- und Angelpunkt bleibt in beiden Wirtschaftsräumen der Arbeitsmarkt. Wir gehen zwar davon aus, dass der zeitweise heiß gelaufene Arbeitsmarkt wieder stärker in die Balance kommt und sich die Ungleichgewichte zwischen demografie-bedingt weniger Angebot und robuster Nachfrage abbauen. Ein Einbrechen erwarten wir aber nicht.“ Damit sei auch ein Abgleiten der amerikanischen Volkswirtschaft in eine tiefe Rezession unwahrscheinlich. Zudem sieht der Kapitalmarktstratege Anzeichen für eine Verbesserung der Lage gegen Jahresende. „In Richtung 2024 dürfte die wirtschaftliche Dynamik zulegen, nicht zuletzt wegen anziehender Investitionen. Je mehr Zeit verstreicht, desto stärker werden die strukturellen Umbauten der westlichen Volkswirtschaften mit Blick auf Dekarbonisierung und den partiellen Rückbau globaler Lieferketten schlagend.“ 

Dieses Bild gilt nach Meinung von Engels grundsätzlich auch für den Euroraum, allerdings mit Zeitverzug. Hier dürfte die Wirtschaftsaktivität erst gegen Ende 2024 wieder in Richtung Trendwachstum aufschließen. „Die Sorgen um Energieengpässe und Lieferkettenprobleme sind zwar verflogen, gleichzeitig kommen aber die Auftragseingänge nur langsam in Fahrt. Zudem haben die Verbraucher deutliche Reallohnverluste zu verkraften – und der volle geldpolitische Bremseffekt steht erst noch bevor“, analysiert Engels. Daher hält er dieses Jahr ein Wachstum des europäischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 0,5 Prozent für realistisch, bevor der Wert im nächsten Jahr auf 0,8 Prozent ansteigen dürfte. Besonders betroffen von der Abkühlung sieht Engels die deutsche Volkswirtschaft, für die er in der Jahresrate für 2023 ein Schrumpfen um 0,1 Prozent prognostiziert. „Deutschland ist gut durch das Winterhalbjahr gekommen. Gleichzeitig waren die Reallohneinbußen aber hoch und der Außenhandel ist schwach, nicht zuletzt wegen der Ermüdungserscheinung im chinesischen Post-Covid-Aufschwung“, benennt Engels die Gründe. Diese Effekte sollten im Jahresverlauf an Kraft verlieren, sodass 2024 die allgemeine wirtschaftliche Wachstumsdynamik zunehmen dürfte. 

Chancen steigen je länger das Jahr dauert 

In Summe erwartet Engels bei allen vier Schlüsselfaktoren – Inflation, Geldpolitik, Finanzmarktstabilität und Konjunktur – Verbesserungen bzw. mehr Klarheit im Jahresverlauf. Auf dem Weg dahin bleibt das Marktumfeld aber seiner Einschätzung nach fragil. „Das zweite Halbjahr bleibt anfällig für starke Schwankungen an den Kapitalmärkten“, erläutert er. 

Mit Blick auf die einzelnen Anlageklassen erwartet Engels keine Fortsetzung der starken Renditeanstiege bei sicheren Staatsanleihen. „Das Thema Renditeanstieg dürfte mit Erreichen des Leitzins- und Inflationsgipfels weitgehend erledigt sein.“ Zum Jahresende sieht er zehnjährige US-Staatsanleihen bei 3,75 Prozent, deutsche Bundesanleihen mit gleicher Laufzeit dürften mit 2,5 Prozent rentieren. Aufgrund der nach wie vor inversen Zinsstrukturkurve rät Engels Anlegern insbesondere zu Engagements mit kürzerer Laufzeit. Besonders interessant bleiben seiner Einschätzung nach Unternehmensanleihen. „Die Fundamentaldaten sind nach wie vor gut und die Renditeniveaus attraktiv“, fasst er zusammen. „In der aktuellen Marktlage weisen diese Anlagen das beste Chance-Risiko-Profil auf.“ Investoren empfiehlt Engels vor allem europäische Emittenten mit gutem Rating (‚Investment Grade‘). 

Aktien bleiben seiner Einschätzung nach für langfristig orientierte Investoren alternativlos. In den kommenden sechs Monaten rechnet Engels aber auch mit Herausforderungen für die Anlageklasse. „Die Aktienmärkte haben sich seit Herbst 2022 bereits spürbar erholt. Für weitere, nachhaltige Anstiege braucht es mehr Erwartungssicherheit bei den Schlüsselthemen, vor allem bei der Konjunktur.“ Insbesondere die Margen- und Gewinnentwicklung dürfte dabei eine entscheidende Rolle einnehmen. „Bis heute haben die Unternehmen ihre Profitabilität beeindruckend verteidigen können. Bei weiterhin robustem Lohndruck und der abnehmenden Inflation wird das allerdings schwieriger.“ Engels rechnet damit, dass Investoren vermehrt ein Fragezeichen hinter den Aktienmarkt machen werden und prognostiziert einen Gewinnrückgang auf globaler Ebene von 5 Prozent im Jahr 2023. Aber mit der Stabilisierung der Konjunktur in Richtung Jahreswechsel erwartet der Kapitalmarktstratege eine Gegenbewegung: „Im Jahr 2024 sind zweistellige Gewinnzuwächse drin. Das sollte den Aktienmärkten Auftrieb verleihen.“ 

Bei Rohstoffen stuft Engels die Energiekrise als überstanden ein und sieht den Ölpreis der Sorte Brent bei 80 US-Dollar je Fass auf zwölf Monate gut verankert. Insgesamt dürften seiner Einschätzung nach Rohstoffe in einem Spannungsfeld zwischen zyklischer Schwäche und strukturellen Knappheiten handeln. „Die schwache Konjunktur belastet die Rohstoffpreise, während gleichzeitig die Grüne Transformation zu einer dekarbonisierten Wirtschaft in vielen Bereichen die Nachfrage strukturell treibt“, analysiert Engels. Vor allem Industriemetalle schätzt er vor diesem Hintergrund als interessant ein. 

Zeit arbeitet für Risikoanlagen

„Ein nervöses zweites Halbjahr 2023 gefolgt von einem aussichtsreicheren 2024 – darauf können sich die Investoren einstellen“, fasst Engels zusammen. „Die Kapitalmärkte werden mehr Klarheit bei den Schlüsselfaktoren erhalten, und damit hellen sich die Perspektiven auf. Geduld wird sich auszahlen.“ Insbesondere ein freundlicherer Wachstums-Inflations-Mix dürfte dazu führen, dass die Attraktivität risikobehafteter Anlagen zunimmt. Bis dahin sieht Engels weiter Chancen an den Börsen durch Aktivität und Selektion. „Unter der Oberfläche tut sich viel an den Märkten, wir erleben große strukturelle Bewegungen. Diese Verschiebungen – Stichwort Künstliche Intelligenz, aber auch Grüne Transformation – kann ein aktiver Manager durch geschickte Titelauswahl für sich nutzen.“

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