Dr. Neder, wie schlagen sich die bestehenden wirtschaftlichen und politischen Krisen in der betrieblichen Altersvorsorge wieder? Auf wie viele Gegenliebe stößt die bAV aktuell?
Neder: Man spricht heutzutage immer sehr schnell von einer Krise. In der Wirtschaft und in der Politik ist es wie in einer Achterbahn: mal geht es hoch, mal geht es runter. Das ist schon in der Vergangenheit immer so gewesen. Und wie immer sind manche Branchen, manche Betriebe mehr und andere weniger von diesen Schwankungen betroffen. Wessen Arbeitgeber gerade auf wackligen Beinen steht, der hat natürlich eher Sorge um sein regelmäßiges aktuelles Einkommen, als um sein Auskommen im Alter. Bei allen anderen erfreut sich die betriebliche Altersvorsorge weiterhin ungebrochener Beliebtheit.
Seit 2018 ist das BRSG in Kraft und hat nach Expertensicht gute Rahmenbedingungen geschaffen. In Gesprächen mit bAV-Experten hören wir dennoch, dass das BRSG vielen kleinen und mittleren Firmen nicht bekannt ist; zudem gibt es nicht wenige Vermittlerinnen und Vermittlern, die keinen Bezug zu bAV haben. Wie fällt Ihr Resümee nach nunmehr sechs Jahren aus?
Neder: Bei kleinen und mittleren Firmen hat es oft kein richtiges Personalmanagement, das sich mit Versorgungsordnungen und all solchen Dingen befasst, so lange es nicht wirklich sein muss. Von den Mitarbeitern wird bAV in der Regel selten angefragt, also bestellt man dieses Themenfeld oft auch nicht aktiv. Vermittler sprechen das Thema auch nicht oft an, da sie entweder durch ihre Spezialisierung generell kein Personengeschäft anstreben oder mangels tieferer Kenntnisse oder eines Kooperationspartners zuviel Respekt vor der Thematik haben, als dass sie aktiv werden möchten.
Wenn weder Firma noch Vermittler tätig werden, kommt genau diese Unwissenheit dabei heraus. Seit Inkrafttreten des BRSG wuchs der Bestand an bAV-Verträgen quer durch alle Durchführungswege um etwas über eine halbe Million Verträge. 2017 waren es sogar noch eine dreiviertel Million Verträge weniger. Der größte Teil davon entfällt auf Direktversicherungen, wo man den „einfachen Arbeiter“, den „typischen Angestellten“ vermuten darf. Also genau die Personen, die am dringendsten fürs Alter vorsorgen müssen. Daher darf man wohl schon von einem Erfolg des BRSG sprechen.
Das BRSG 2 ist Geschichte. Wie bewerten die geplante Reform im Rückblick?
Neder: Ob das BRSG 2 die bAV wirklich weiter gepusht hätte, wäre abzuwarten gewesen. Eine Opting-Out-Lösung per Betriebsvereinbarung setzt voraus, dass man im jeweiligen Unternehmen mit einem Entscheider spricht, dem das Thema wichtig ist und dem die Versorgung seiner Mitarbeiter am Herzen liegt. Die Niedrigverdiener wären auch mit der Neuregelung sicher nicht, die erste Zielgruppe gewesen, die bereitwillig auf Nettoeinkommen verzichtet hätte. Die gestiegenen Lebenshaltungskosten fordern hier ihren Tribut. Andere, viel wichtigere Themen, die momentan noch den ein oder anderen vom Abschluss abhalten wie die eingeschränkte Vererbbarkeit oder die steuerliche Behandlung hätte die Reform weiterhin nicht angefasst. Das BRSG 2 wäre alles in allem eine vertane Chance gewesen.
Hinter dem Begriff bAV verbergen sich komplexere Produkte und umfassendere Absicherungsstrategien. Wo liegen für den Vertrieb die Hürden und Herausforderungen bei der Beratung und der Implementierung?
Neder: Vor allem beim ersten Schritt. Das Groß der bAV-Fälle ist Direktversicherungsgeschäft. Sich dafür fachlich fit zu bekommen ist kein Hexenwerk. Und dann ist es wie immer in der Akquise: Ansprechen, Ansprechen, Ansprechen. Früher, also vor dem BRSG war die Sozialabgabenersparnis evtl. der Punkt, mit dem man den Fuß in die Tür bekam. Nun muss sich der Vermittler eher als Servicepartner anbieten, der das BRSG ohne Aufwand für den Arbeitgeber selbst rechtssicher im Betrieb umsetzt – Versorgungsordnung inklusive. Der Arbeitgeber wird wesentlich motivierter sein, die Tür zu öffnen, wenn er auch einen Vorteil für die Firma erkennen kann.
Ein zentrales Hindernis sind die großen Informations- und Wissensdefizite kombiniert mit einer zu geringen Anzahl von bAV-Beraterinnen und Beratern. Wie lässt sich diese Problematik lösen?
Neder: Idealerweise baut sich jeder Gewerbe- oder Industriemakler intern entsprechende bAV-Kräfte auf. Das wird aber nicht so ohne weiteres passieren. Die Spezialisierung hemmt die Diversifikation der Tätigkeitsfelder – vor allem, wenn die bisherigen auskömmlich sind und für ein hohes Maß an Auslastung bei der Belegschaft sorgen. Auch würde es dann an „alten Hasen“ fehlen, die das neue Team kompetent begleiten können. Sinnvoll wäre es, die eigenen Firmenkontakte mit einem auf bAV-spezialisierten Maklerkollegen anzugehen. Den bAV-Kollegen wird es auch einfacher fallen, bei Bedarf weitere Fachkräfte aufzubauen, da das Know-How vorhanden ist. Kooperation scheint der einfachste Weg zur Beseitigung aller Hindernisse zu sein. Es löst jedoch nicht die Herausforderungen rund um die bAV, da wir es mit Arbeitsrecht, Steuerrecht, Sozialversicherungsrecht und am Ende dann auch noch mit Versicherungsrecht zu tun haben. Es braucht also wie in vielen Bereichen eine starke Vereinfachung unserer rechtlichen Rahmen.
Welche Relevanz hat Social Media in der bAV-Beratung? Und könnten nicht Influencer oder „Fintalker“ für mehr Sichtbarkeit gerade in den jüngeren Zielgruppen sorgen?
Neder: Social Media scheint oft ein wenig viel „Werbemacht“ zugetraut zu werden. Die Algorithmen der verschiedenen Social-Media-Plattformen zeigen einem ja im Wesentlichen das an, wofür man sich in der Vergangenheit interessiert zeigte. Dazu kommt noch bezahlte Werbung, wenn man in eine selektierbare Zielgruppe fällt. Für Vorsorgethemen interessieren sich im Verhältnis doch relativ wenige Nutzer. Wer finanzaffin ist und Content-Creatoren folgt, die sich mit diesen Themen befassen, dem kann man so einen Erstkontakt zum Thema und Neugier auf mehr verschaffen. Andere Nutzer wird man wohl kaum erreichen. Der Umfang, den ein Social-Media-Post haben darf, damit er auch beachtet wird, macht es auch extrem schwer etwas wie Entgeltumwandlung auch nur halbwegs zu erklären. bAV wird wohl weiterhin direkt beim Arbeitnehmer angesprochen werden müssen – im Betrieb oder daheim. Es bleibt eben ein „low-interest-product“ für die meisten. Obwohl essentiell notwendig.
Welche Bedeutung, welche Rolle, spielen eine digitale bAV-Verwaltung & digitale Tools für Arbeitgeber und Arbeitnehmer?
Neder: Solche Tools können die Ansprache des Themas in einer Belegschaft erleichtern. Interessierte Arbeitnehmer können sich selbst ein wenig einlesen und mit verschiedenen Beiträgen spielen. Arbeigeber können neue Mitarbeiter einfach anlegen und hierüber ganz einfach über die bestehende bAV und ihre Regelungen informieren. Es bringt das Thema ohne großen Aufwand schneller an den Tisch und macht es allen Beteiligten inkl. dem Vermittler einfacher. Digitale Prozesse in der Abwicklung sind Voraussetzung um eingerichtete Kollektive dauerhaft kostendeckend zu servicieren.
Vor dem Hintergrund der digitaleren Beratungsansätze: Welche Relevanz hat die persönliche Beratung in der bAV. Ist sie vonnöten und auch gewünscht?
Neder: Sie ist fast zwingend nötig. Das Thema muss beim Arbeitnehmer vorgestellt werden. Dieser hat viele Fragen und fühlt sich normalerweise wohler, wenn sich ein kompetenter Vermittler Zeit für ihn nimmt. Vorsorge muss ein gutes Gefühl vermitteln. Ohne Mensch und nur mit Zahlen ist das beim größten Teil der Bevölkerung nicht möglich. Es ist wie mit Telefonzentralen von Firmen. Ruft man an und es meldet sich nur ein Sprachdialogsystem weckt das kaum positive Gefühle. Landet man dann endlich bei einem Menschen ist die Welt wieder in Ordnung. Ein erfolgreiches digitales umschalten auf „Autopilot“ für den Vertrieb der bAV sehen wir daher noch lange nicht gegeben.
Welche Relevanz spielt das Thema Nachhaltigkeit in der betrieblichen Altersvorsorge auf vertrieblicher Seite und welche auf Kundenseite?
Neder: Die Nachfrage nach nachhaltigen Lösungen ist noch stark ausbaufähig. Es gibt Kundengruppen, denen das Thema sehr wichtig ist – vor allem jüngere Menschen legen Wert darauf, wenn sie gezielt danach gefragt werden. Oder Arbeitgeber die eine echte Nachhaltigkeitsstrategie verfolgen. Die aktuellen Unruheherde der Welt sind bedauerlich. Allerdings profitieren beispielsweise Rüstungskonzerne davon. Deren Nachfrage auf Anlagerseite nun durchaus wieder salonfähig wurde, da noch immer oftmals die Rendite tendenziell ausschlaggebend ist. Das Interesse an konventionelleren Fondspolicenlösungen ist daher anhaltend hoch.