Das Thema Inflation entwickelt sich immer mehr zum Schreckgespenst. Im März lag sie bei gut sieben Prozent. Nicht wenige sprechen davon, dass sie Ende des Jahres bei zehn Prozent oder mehr liegen könnte. Ist das auch Ihre Einschätzung?
Viebig: Momentan leiden die Wirtschaft und die Finanzmärkte unter einen massiven Angebotsschock aufgrund der gestiegenen Rohstoffpreise infolge des Ukraine Konflikts. Die Verbraucherpreisinflation ist in den USA auf 8,5 Prozent gestiegen und in Europa auf 7,5 Prozent. Die höchsten Inflationsraten seit den 1980er Jahren. Bis zum Dezember letzten Jahres hat die EZB erwartet, dass die Inflation in diesem Jahr nur bei 1,7 Prozent liegen wird. Sie hat die tatsächliche Inflation massiv unterschätzt, die bereits vor dem Krieg in der Ukraine deutlich angestiegen ist. Jetzt führt der Krieg zu einem Angebotsschock. Also das komplette Gegenteil von dem, was wir in der Covid-Krise erlebt haben. Damals gab es einen Nachfrageschock mit der Folge, dass die Nachfrage, das Bruttoinlandsprodukt und die Inflation zurückgegangen sind. Beim Angebotsschock geht auch das Bruttoinlandsprodukt zurück, aber der Unterschied ist – und der ist gravierend – die Preise steigen. Das ist der wesentliche Unterschied. Die Zentralbanken stehen nun vor einer schwierigen Aufgabe: Erhöhen sie die Zinsen zu stark, dann würgen sie das Wachstum ab. Verzichten sie indes auf Zinserhöhungen, dann steigen die Inflationserwartungen und die Inflation verfestigt sich.
Wir stecken in Europa in einem Dilemma. Auf der einen Seite haben wir eine bislang steigende Inflation, auf der anderen Seite nach wie vor sehr niedrige Zinsen im Euroraum. Müsste die EZB nicht mehr machen als sie es bisher tut?
Viebig: Die EZB reagiert derzeit vermutlich zu zögerlich. Die Vergangenheit zeigt, dass bei einem Angebotsschock die Zentralbanken die Inflationserwartungen niedrig halten sollten. Eine gute Geldpolitik sollte sich an der Taylor-Regel orientieren. Diese besagt, dass die Zentralbank die Zinsen anheben sollte, wenn die Inflation deutlich über ihr Inflationsziel steigt und die Wirtschaft stark ausgelastet ist. In Europa und in den USA liegt die Inflation derzeit – mit 7,5 und 8,5 Prozent – deutlich über dem Inflationsziel der Zentralbanken von rund zwei Prozent. Eigentlich hätten beide Zentralbanken die Zinsen bereits längst anheben müssen, um die Inflationserwartungen niedrig zu halten. In den USA ist die Wirtschaft zudem stark ausgelastet, nicht zuletzt infolge der hohen Stimulusprogramme unter US-Präsident Joe Biden. Die U3-Arbeitslosenquote lag im März in den USA bei 3,6 Prozent und damit unterhalb der Non Accelerating Inflation Rate of Unemployment, zu deutsch der „inflationsstabilen Arbeitslosenquote“. Ein Indiz dafür, dass die US-Wirtschaft gut ausgelastet ist und der Lohnkostendruck weiter zunehmen wird. Leider haben die EZB und die FED trotz der gestiegenen Inflationsraten und der hohen Auslastung der Wirtschaft auf frühzeitige Zinserhöhungen verzichtet. Beide stehen jetzt unter einem enormen Druck: Die Inflation ist hoch, sie müssen etwas tun. Deshalb vermute ich, die Zinsen werden stärker steigen als es die meisten Marktteilnehmer erwarten. Der Fed-Chef Jerome Powell hat jüngst zur Überraschung der Märkte implizit angekündigt, dass eine Zinserhöhung um 50 Basispunkte bei der nächsten Fed-Sitzung im Mai möglich sei. Die Tauben im EZB-Rat wie etwa Philipp Lane und Fabio Panetta glauben weiterhin, dass die Inflation in der Eurozone größtenteils von allein zurückkommen wird, während sich die Falken im EZB-Rat wie etwa Bundesbankpräsident Joachim Nagel und der niederländische Zentralbankpräsident Klaas Knot für eine restriktivere Geldpolitik aussprechen. Bisher haben sich die Tauben im EZB-Rat durchgesetzt.
Oddo BHF bietet unter anderem die Multi-Asset-Produkte Polaris-Fonds an. Die Sektoren Öl und Gas werden trotz Umbau der Energieversorgung auf nachhaltige Quellen noch auf Jahre hinaus wichtig bleiben. Viele sehen deshalb in diesem Jahr eine Jahrhundertchance, was Öl- und Gasinvestments betrifft. Sehen Sie das auch so und wie verfahren Sie im Rahmen der Fonds?
Viebig: Erstens spekulieren wir grundsätzlich nicht auf solche kurzfristigen Faktoren. Der Ölpreis ist bereits relativ stark gestiegen. Die Unsicherheit ist enorm hoch. Wenn es zu einem Friedensschluss käme, würde der Ölpreis deutlich zurückgehen, und wenn die Situation weiter eskaliert, dann wird der Ölpreis sicher noch weiter steigen. Zweitens sind wir Qualitätsinvestoren und investieren typischerweise in Unternehmen, die hohe Kapitalrenditen haben, wo der Return on Investment sehr hoch ist. Das sind Unternehmen, die klare Wettbewerbsvorteile haben, die strukturell wachsen und die bestimmte ESG-Kriterien erfüllen. Von kurzfristigen Spekulationen halten wir uns generell fern.
Das heißt, Sie sind gar nicht im Rohstoffsektor engagiert?
Viebig: Relativ gering. Wir haben bestimmte Unternehmen, etwa Ausrüster in diesem Bereich, die wirkliche Wettbewerbsvorteile bieten und von dem Wandel langfristig profitieren. Oftmals ist es lukrativer auf die Zulieferer, die die Schaufeln herstellen, zu setzen als auf jene, die sie dann einsetzen. Solche Unternehmen halten wir dann auch sehr oft langfristig.
Das Thema ESG ist spätestens seit diesem Jahr ein existenzieller Faktor in der Kapitalanlage. Was ist bei den Polaris-Fonds wichtiger, die klassische Fundamentalanalyse oder das ESG-Research?
Viebig: Früher hatte man angenommen, dass eine Betonung von ESG-Kriterien zu einer schlechteren Performance führt. In der Anfangsphase war das auch der Fall, weil viele Portfoliomanager in der Anfangszeit bei der Implementierung von ESG-Kriterien extreme Risiken eingegangen sind – Stichwort Solarworld oder Conergy – und dabei vergessen haben zu diversifizieren. Inzwischen deuten wissenschaftliche Studien mehrheitlich darauf hin, dass ESG-Kriterien dazu beitragen können, dass das Risiko in einem diversifizierten Portfolio sinkt und die Rendite steigt – oder zumindest nicht niedriger ausfällt, als man anfänglich vermutet hat. Deshalb sagen wir: Es ist nicht nur ethisch richtig, bestimmte ESG-Kriterien zu berücksichtigen, sondern auch aus Gründen des Risikomanagements sinnvoll. Wir haben bei der Titelauswahl stets vier Faktoren im Blick: Hoher Cashflow Return on Investment, Wettbewerbsvorteile, strukturelles Wachstum und ESG. Und nur Unternehmen, die alle vier Kriterien erfüllen, schauen wir uns überhaupt an. Letztlich geht es nicht nur um ökologische und soziale Kriterien, sondern auch um eine gute Unternehmensführung. Bei rund 90 Prozent der Fälle, in denen Unternehmen betrügen, gibt es Probleme mit dem Umsatzausweis. Wir achten sehr stark darauf, dass die Unternehmensführung gut ist und Umsätze nicht vorzeitig oder betrügerisch ausgewiesen werden. Deshalb hatten wir beispielsweise Unternehmen wie Wirecard gar nicht im Portfolio. Eine vernünftige Implementierung von ESG-Kriterien sorgt für Risikovermeidung.
Auf wessen Expertise in Sachen ESG setzen Sie?
Viebig: Kein Anbieter verfügt derzeit über ein perfektes ESG Research, weil die Datenlage noch nicht ausreichend gut ist. Deshalb nutzen wir externe Daten, beurteilen diese aber mit unserer eigenen Expertise. Und bei jedem Unternehmen müssen Sie genau hinsehen: Welches Kriterium ist denn für dieses Unternehmen besonders wichtig? Bei einem Nahrungsmittelhersteller beispielsweise sind ganz andere Kriterien als bei einem Unternehmen, das Komponenten für Flugzeuge herstellt, entscheidend.
Wann erwarten Sie eine Verbesserung der Datenlage?
Viebig: Ich glaube, es wird niemals ein-eindeutige Daten geben. Nehmen Sie als Beispiel eine Bank: Eine Bank ist in einem bestimmten Gebäude. Wie hoch ist die CO2-Belastung in so einer Bank? Diese Daten lassen sich schätzen, werden aber niemals genau sein, weil sich der Zustand des Unternehmens selbst permanent verändert. Wir werden besser bei der Einschätzung, aber wir sind weit davon entfernt, gerade ökologische Belastungen, externe Effekte von Unternehmen wirklich genau bestimmen zu können. Aus diesem Grund ist es so wichtig, dass man Prozesse und Kriterien vereinheitlicht, um an bessere – und damit meine ich vergleichbare Daten zu gelangen.
Das heißt, Sie plädieren für einen Standard in Europa oder sogar weltweit, was das Thema ESG betrifft?
Viebig: Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel als Antwort: Wir sind ein deutsch-französisches Unternehmen. Wenn man über Atomkraft nachdenkt, kann man das sehr unterschiedlich sehen. Meine Kollegen in Frankreich denken mehrheitlich sicherlich anders darüber als die Kollegen in Deutschland, weil sie einfach aus einer anderen Kultur kommen. Am Ende muss man sich in einem Unternehmen auf klare ESG-Kriterien einigen, diese den Kunden und Kundinnen transparent erklären und dann konsequent einhalten. Unser Ziel ist, dass wir beständig dazu lernen und unethische Investments konsequent vermeiden. Bei allen Investments fragen wir uns täglich, ob irgendein Unternehmen objektiv gegen ESG-Kriterien verstößt. Unser Prozess hat dazu geführt, dass gerade unsere Polaris-Fonds ein sehr hohes ESG-Rating von unabhängigen Ratingagenturen erhalten haben. Das Beispiel zeigt: Gute Performance und ein hohes ESG-Rating kann man gleichzeitig erzielen.
Das Gespräch führte Frank O. Milewski, Cash.