Investoren sind über US-Wirtschaft besorgt
Die Besorgnisse um das US-Wirtschaftswachstum erschüttern mittlerweile das konjunkturelle Gleichgewicht weltweit – und zwar insbesondere vor dem Hintergrund der für das I. Quartal 2016 vermeldeten Zahlen. Jüngsten Schätzungen zufolge hat sich das BIP-Wachstum in den ersten drei Monaten dieses Jahres letztendlich auf 0,80 Prozent abgeschwächt (Quellen: US Bureau Of Economic Analysis, Bloomberg). Gleichzeitig ist das Wachstumspotenzial der US-Wirtschaft auf Gesamtjahresbasis laut einigen Volkswirten auf 1,40 Prozent gesunken (Quelle: Wirtschaftsresearch von JP Morgan) und ist damit deutlich niedriger als in vergleichbaren früheren Konjunkturphasen. Betrachtet man aber die aktuellen Zahlen zum Immobilienmarkt, zur Arbeitslosigkeit sowie zu den Konsumausgaben, so ist im II. Quartal des Jahres mit einer Verbesserung zu rechnen. Allerdings sollte man die möglichen Konsequenzen einer Wahl mit ungewissem Ausgang nicht unterschätzen, zumal mit Trump und Sanders im Vorwahlkampf zwei eher unkonventionelle Kandidaten im Fokus standen. Und schließlich hat die US-Notenbank vor kurzem den Weg freigemacht, um die Zinsen eher früher als später wieder anzuheben. Der zigste Strategiewechsel in dieser fast schon unendlichen Geschichte würde den Anlegern sicherlich einiges an Kopfzerbrechen bereiten.
Vor diesem Hintergrund sind europäische Aktien nach wie vor die attraktivste Anlageklasse. So erwartet man von den bedeutenden Wirtschaftsräumen weltweit in Europa für 2016 das höchste Wachstum. Man rechnet damit, dass die Wirtschaft der Eurozone im Jahr 2016 um 1,8 Prozent wachsen wird, nachdem das Wachstum 2015 bei 1,6 Prozent gelegen hat (Quelle: Factset Economic Aggregates). Der konjunkturelle Trend spiegelt sich auch in der Kreditvergabe an Privathaushalte und Unternehmen wider. Diese positive Tendenz spricht bei Unternehmen aus dem Euroraum für ein vergleichsweise kräftiges Gewinnwachstumspotenzial. Daraus ergibt sich auch die Chance auf höhere Transaktionsvolumina bei Dienstleistungen, Investitionsgütern etc. in Form steigender Einzelhandelsumsätze und Unternehmensinvestitionen. Dank des Aufwärtstrends bei den Volumina, der sich mittlerweile sogar im Bausektor, in dem es traditionell am längsten dauert, bis eine Erholungstendenz zum Tragen kommt, abzuzeichnen beginnt, können die Firmen endlich die Erträge ihres höheren operativen Leverages einfahren, die sie in der Vergangenheit genutzt haben. Während der Finanzkrise sowie in den Jahren 2010 bis 2015, in denen die Eurokrise und der Konjunkturabschwung in China den Welthandel belastet haben, setzten die Unternehmensleitungen verstärkt auf ihre operativen Hebel.
Möglicher Brexit trübt Anlegerstimmung
Zugegebenermaßen ist zwar auch Europa gegen externe Schocks nicht immun, aber die grundlegenden Wachstumsfaktoren sind bereits eindeutig erkennbar. Das sich beschleunigende Wachstum von 0,60 Prozent aus dem I. Quartal (Quelle: Eurostat), das in erster Linie von Frankreich und Spanien ausging, übertraf die Erwartungen. Gleichzeitig hat die EZB ihre Unterstützungsmaßnahmen intensiviert und kauft ab Juni auch Unternehmensanleihen auf. Das am 23. Juni anstehende „Brexit“-Referendum (bei dem die Briten darüber abstimmen werden, ob sie in der EU bleiben möchten) trübt jedoch die Stimmung der Anleger.
Eine endlich wieder glaubwürdigere Politik bezüglich Europa würde der Anlageklasse Aktien aber einen Schub geben. Die allgemeinen Erwartungen für die Gewinnmargen europäischer Unternehmen wirken vor diesem Hintergrund eher zu pessimistisch. So zeigt sich der breite Markt momentan übermäßig zurückhaltend und geht für die Eurostoxx 50-Firmen von einem Rückgang des Gewinn pro Aktie um fast 1,50 Prozent aus, nachdem dieser 2015 noch um nahezu 13 Prozent nach oben geklettert war (Quelle: Factset Estimates Aggregates). Gleichzeitig rechnet man für die Eurozone mit einem Wirtschaftswachstum von rund zwei Prozent. Die vorgelegten Quartalsgewinne sowie positive Zukunftseinschätzungen der Unternehmen stehen jedoch im Widerspruch zu dieser negativen Auffassung zum Euroraum.
Europas Aktienmärkte sind günstig
Die Bewertungsdifferenzen zwischen US-amerikanischen und europäischen Aktien sprechen dafür, dass europäische Titel momentan zu einem Abgeld von rund 20 Prozent gehandelt werden, obwohl der konjunkturelle Trend in Europa zurzeit robuster verläuft. Ein derart hohes Risikoaufgeld hat es seit der Eurokrise nicht mehr gegeben – und das, obwohl sich die Fundamentaldaten in Europa inzwischen sogar wieder verbessern. Sofern es also kein heftiges politisches Beben etwa infolge eines „Brexit“ oder eines Auseinanderbrechens Spaniens gibt, das unter den Anlegern erneut Ängste auslösen würde, sollte sich diese Anomalie am Markt letztlich von selbst wieder korrigieren. Augustin Picquendar
ist Fondsmanager bei DNCA Investments, Frankreich.
Foto: DNCA Finance