Wir legen in New York an
Wenn wir im Hafen von New York City von Bord gehen, kann man sich schwer vorstellen, dass noch vor gut 400 Jahren der größte Teil des heutigen Einzugsgebietes der Stadt von dichten Wäldern bewachsen war. Bis 1880 wurden fast 70 Prozent davon in Ackerland umgewandelt. Die Flüsse und Bäche wurden großflächig aufgestaut, um Landwirtschaft, Mühlen, Fischerei, Strom und Trinkwasser zu gewinnen. Dafür sind in den letzten 100 Jahren fast 85 Prozent der Süßwasser- und Gezeitenfeuchtgebiete in der Region New York City verloren gegangen. Der geschäftige Hafen von New York ist ein Epizentrum für invasive Arten in den Rest des Kontinents, die dort Umweltverluste und -schäden von etwa 120 Milliarden US-Dollar jährlich verursachen. Im Pelham Bay Park, dem größten Naturgebiet im Parksystem der Stadt, gingen über einen Zeitraum von 50 Jahren jedes Jahr knapp drei einheimische Pflanzenarten verloren, während fast fünf neue exotische Arten hinzukamen.
Ebenso waren Austern einst eine reichhaltige Ressource der Hudson-River-Mündung. Im 19. Jahrhundert gab es in der Region mehr als 900 Quadratkilometer Austernriffe. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren sie aufgrund von Sedimenten, Wasserverschmutzung und Überfischung praktisch verschwunden. Damit ging nicht nur der Zugang zu einem regionalen Nahrungsmittel verloren, sondern auch wertvolle Ökosystemleistungen wie die Verbesserung der Wasserqualität sowie Lebensräume für marine Arten. Im Hudson River sind heute etwa 33 Prozent der Fischarten vermutlich nicht heimisch. Fast 1.500 Pflanzenarten sind in den fünf Bezirken von New York City heimisch. 93 Prozent dieser Arten sind jedoch in den letzten 100 Jahren zurückgegangen, nicht nur aufgrund des Verlusts ihres Lebensraums, sondern auch aufgrund sich ändernder Umweltfaktoren wie Klima, Lebensraumfragmentierung, verringerter Verfügbarkeit von Bestäubern, invasiven Arten und Umweltverschmutzung.
Wir folgen der Spur der ersten weißen Siedler des amerikanischen Kontinents und setzten unsere Reise fort, in Richtung Great Plains – einer weitläufigen Landschaft im Herzen des Kontinents, die sich von Kanada bis in den Norden Mexikos erstreckt. Als weiße Siedler erstmals hier her kamen, lebten in den Great Plains schätzungsweise mehr als 30 Millionen Bisons – bis 1900 hatten nur wenige Hundert von ihnen überlebt. Westernhelden wie William Cody alias Buffalo Bill brüsteten sich damit, tausende Tiere innerhalb weniger Monate getötet zu haben, Aufnahmen aus den 1870ern zeigen meterhohe Berge von Bisonschädeln. Noch heute sind die Grat Plains Heimat von 2.900 Pflanzenarten und Lebensraum für hunderte Vogel-, Säugetier-, Reptilien-, Amphibien- und Fischarten sowie Zehntausende Insektenarten.

Marlene Waske (Foto: Arete Ethik Invest)
Die Süßwasserressourcen der Great Plains sind von entscheidender Bedeutung für die Versorgung mit sauberem Trinkwasser, Lebensmitteln und Energie. Sie sind eine der weltweit wichtigsten Regionen der Nahrungsmittelproduktion – doch dies hat seinen Preis: Die Nahrungsmittelproduktion und andere menschliche Aktivitäten haben die Landschaft fragmentiert. Etwa 40 Prozent der Great Plains dienen der Produktion von Reihenkulturen, wie beispielsweise Mais – die ikonische Tierwelt, die einst in der gesamten Region weit verbreitet war, ist drastisch zurückgegangen. Das großflächige Umbrechen von Grasland verwüstet viele Teile der Great Plains: Es zerstört Lebensraum, trägt zum Klimawandel bei, indem gespeicherter Kohlenstoff freigesetzt wird, und beeinträchtigt die Belastbarkeit des Systems, indem die Fähigkeit des Landes, Wasser aufzunehmen, stark reduziert wird. Welche Konsequenzen das haben kann, haben Bauern der Great Plains in den USA in den 1930ern erlebt: Eine Dürre verwandelte den gepflügten Boden, der nun nicht mehr mit Gras bewachsen war und somit den Winden nichts mehr entgegenzusetzen hatte, in eine gigantische „Dustbowl“: Sandstürme begruben ganze Farmen unter sich, Humus wurde tonnenweise verweht, teilweise bis nach Washington D.C. – Bauern verloren Reihenweise ihre Existenzen.
Die moderne Landwirtschaft gilt als Hauptursache für den Artenschwund, noch vor dem Klimawandel, Verschmutzung und invasiven Arten. Sie ist entkoppelt von menschlicher Muskelkraft, abhängig von Öl. Ein Liter Öl stellt so viel Energie bereit, wie 100 Paar Hände in 24 Stunden. In den USA produzieren drei Millionen Bauern so viel Korn, dass man damit zwei Milliarden Menschen versorgen könnte. Doch wir bauen diese Hochleistungspflanzen an, um damit Tiere zu füttern, die wir unter unwürdigen, aber für die Mehrheit unsichtbaren Bedingungen halten, darunter weltweit 23 Milliarden (!) Hühner. Fast noch schlimmer als die gigantische Anzahl der Nutztiere ist die verschwindend geringe Zahl an Nutztierrassen: Bergische Kräher, Deutsches Langschan, gesperberte Domikaner, Sachsenhuhn und Ramelsloher – all diese Hühnerrassen wurden über Jahrhunderte gezüchtet. Das Wissen und die Geduld unserer Vorfahren liegen in ihnen – und trotz der mehr als 90 Millionen Hühner, die in Deutschland allein zur Mast gehalten werden, sind sie wie viele andere Rassen vom Aussterben bedroht oder extrem gefährdet: weil sie die geforderten 2,2 Kilogramm Schlachtgewicht nicht in 35 Tagen erreichen, sondern Monate dafür brauchen; weil sie nicht 320 Eier im Jahr legen, sondern vielleicht nur 170.
Allein in Deutschland werden 52 von 74 einheimischen Rassen der fünf Großtierarten (Pferd, Rind, Schwein, Schaf, Ziege) durch den Fachbeirat Tiergenetische Ressourcen als gefährdet eingestuft. In den letzten 100 Jahren sind etwa drei Viertel der Nutztierarten, die weltweit über tausende Jahre gezüchtet wurden, entweder verschwunden oder stark dezimiert. Zum einen führt das dazu, dass die genetische Vielfalt sinkt: Weniger genetische Diversität bedeutet weniger Anpassungsmöglichkeiten an veränderte Bedingungen wie Hitze, Kälte, Trockenheit, Fluten, etc. Zum anderen trägt Umfang und die Art der Bodennutzung und Tierhaltung erheblich zum CO2-Ausstoß bei, was wiederum den Klimawandel befeuert. Der globale Stickstoffkreislauf wird durch die industrielle Tierhaltung aus dem Gleichgewicht gebracht – bei gleichzeitig hohem Energie- und Wasserverbrauch: 70 Prozent des menschlichen Wasserverbrauchs gehen in die Landwirtschaft. Doch es gibt keine gesamtwirtschaftliche Verrechnung für den Planeten, die dies erfassen würde.