EXKLUSIV

Vom „Ökosuizid“ zum Optimismus? Eine Reise durch die Bedrohung der Artenvielfalt (Teil 2)

Doch weg von der Wirtschaft: Haben Sie schon mal in einen deutschen oder schweizerischen Durchschnittsgarten geschaut? Was haben Sie gesehen? Ich vermute in etwa das: raspelkurz geschorener Rasen, Kirschlorbeer und Thuja Hecke, und immer öfter: Steine, in allen Farben. Aus Sicht eines Insekts gibt es keinen Unterschied zwischen Steinen und Kirschlorbeer – für Hummel, Florfliege und Marienkäfer ist das alles gleichermaßen eine Wüste. Diese vermeintliche Sauberkeit und Ordnung, die so oft als tugendhaft gelten, haben sich in unseren Gärten in Besessenheit gewandelt. Ich wohne in der Nähe einer Kleinstadt, die in einem Biosphärenreservat liegt. Die Stadt hat um der Biodiversität Willen ungenutzte Grünflächen nicht gemäht – was zu wütenden Anrufen der Anlieger bei der Stadtverwaltung führte, warum man das so „verlottern“ lasse. Die Pläne der Bundesregierung, zwei Prozent der Fläche Deutschlands als Wildnis zu klassifizieren, treiben mancherorts Anwohner auf die Barrikaden.

Wir sind gewohnt an Kontrolle, an Beherrschbarkeit, an Ordnung bis in das letzte Würzelchen. Giersch, Gundermann und Efeu, die unsere wunderbar geordnete Welt überwuchern wollen – sie wecken unsere Angst vor Kontrollverlust. Wenigstens in diesen paar Quadratmetern Grün, finanziert mit dem täglichen Hamsterrad, wollen WIR bestimmten, was passiert; in einer Welt, die sich zunehmend unserer Kontrolle entzieht. Eine wild vor sich hinwachsende Grünfläche? Das muss ein Versäumnis sein. Ich wage noch nicht einmal zu schätzen, wie viel jedes Jahr ausgegeben wird – an Geld, Arbeitsstunden und Nerven, an Kosten des Gesundheitssystems, die aus „Gartenunfällen“ resultieren – um öffentliche und private Grünflachen zu mähen, Straßenränder, Kreisverkehre, Gehwegränder, Parkflächen; Hecken, die geschoren oder gar gerodet werden, Gänseblümchen, die aus dem perfekten Rasen gerissen werden. Und dann sind wir traurig, wenn sich im Winter kein Vogel mehr an unserem Futterhäuschen findet. Der Nabu schätzt, dass es etwa 13 Millionen Privatgärten in Deutschland gibt, die zusammen etwa die gleiche Fläche haben, wie alle Naturschutzgebiete im Land. Pessimistisch gesehen bedeutet das, dass all unsere Naturschutzgebiete gerade das kompensieren, was wir in unseren sterilen Privatgärten an Artenvielfalt vernichten. Doch:

Zurück zum Optimismus II

Die optimistische Auslegung des Verhältnisses von Privatgärten zu Naturschutzgebieten ist, dass jeder von uns einen mächtigen Hebel in der Hand hat, die Naturschutzfläche in Deutschland zu verdoppeln, indem wir, was uns besonders schwerfällt – wenig tun: weniger mähen, weniger Rückschnitt, weniger Dünger, weniger „Unkraut“ vernichten. Mehr Insekten zulassen, Schlupflöcher und Überwinterungsmöglichkeiten für sie schaffen, einen Teil des Gemüsegartens für die „Schädlinge“ stehen lassen, nicht jeden Apfel penibel vom Baum pflücken oder aufharken. Die Vögel werden es Ihnen danken. Einer Studie zufolge wäre das so, als würde in Ihrem Garten oder Balkon Geld wachsen, denn: Zehn Prozent mehr Vogelarten in der unmittelbaren Umgebung stiften den gleichen Nutzen, die gleiche Lebenszufriedenheit, wie zehn Prozent mehr Einkommen.

Und es gibt einige Kommunen in Deutschland und anderswo, die dies unterstützen: Sie lassen Blühwiesen entstehen oder vergeben Förderpreise für naturnahe Gärten. Im Jahr 2007 startete New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg „PlaNYC“ – eine Reihe langfristiger Strategien, die New York City bis 2030 kumulativ grüner machen sollen, wozu auch das Pflanzen von Millionen von Bäumen zählt. Mikrofarmen und Solawis, städtische Gemüseanbauinitiativen, schießen aus dem Boden wie Pilze.

Die gute Nachricht ist auch, dass die Sensibilität für den Artenschwund im Alltag wie auch in der Wirtschaft steigt. Medien und Verbraucher sind aufmerksamer geworden: So sank der Börsenwert des Agro-Riesen Bayer nach der Übernahme des US-Konzerns Monsanto und der anschließenden Glyphosat-Diskussion drastisch. Auch die Regulatorik hat zumindest ein Label geschaffen, das einen ersten Orientierungsansatz gibt (Haltungsform 1,2,3,4). Das alles löst noch nicht das Problem, aber es ist ein Symptom dafür, dass der Wunsch nach etwas anderem in den Menschen gärt.

Marlene Waske ist Ethik-Analystin bei Arete Ethik Invest.

Teil 1 des Artikels lesen Sie hier.

Teil 3 des Artikels lesen Sie hier.

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