Obwohl der Inflationsdruck in einigen Ländern allmählich nachlässt, dürfte er auf absehbare Zeit stark bleiben. Aus diesem Grund halten die meisten Zentralbanken die Zinssätze noch hoch. Das erhöht den finanziellen Druck auf die Verbraucher, von denen viele bereits durch die gestiegenen Lebenshaltungskosten belastet sind.
Um in diesem Umfeld erfolgreich navigieren zu können, benötigen Finanz- und Telekommunikationsanbieter Zugang zu möglichst vielen Datensätzen mit sowohl traditionellen als auch nicht-traditionellen Datenpunkten. Der Zugang zu Daten ist jedoch nur der erste Schritt. Um komplexe, nichtlineare Beziehungen in diesen Daten zu entdecken, sind die fortgeschrittenen analytischen Fähigkeiten der künstlichen Intelligenz erforderlich.
Entsprechend betrachten 79 Prozent der Führungskräfte die Einführung fortschrittlicher Analysen mit Künstliche Intelligenz (KI)/Machine Learning (ML)-Fähigkeiten als oberste Priorität für die nächsten Monate. Das belegen Zahlen aus der jüngsten KI-Studie von Experian, die von Forrester Consulting durchgeführt wurde und für die Entscheider aus Deutschland im Sektor Finanzdienstleistungen und Telekommunikation exklusiv befragt wurden. KI/ML ist unverzichtbar geworden und liefert für Early Adopter schon jetzt einen positiven ROI.
Die Auswirkungen von Inflation und Finanzdruck: Das Kreditausfallrisiko steigt
Die Ergebnisse zeigen, dass sich in den letzten zwölf Monaten – trotz einzelner Rückgänge in manchen Portfolien – eine neue Entwicklung bei Kreditanträgen ankündigt: In Deutschland ist sowohl das gesamte Volumen neuer Kreditanträge durch höhere Beträge gestiegen als auch die Zahl der säumigen Kunden. So stellten 56 Prozent der befragten Entscheider einen Anstieg des Volumens der Kreditanträge von Neukunden fest und 55 Prozent einen Anstieg des Volumens der Kreditanträge ihrer Bestandskunden.
Die andere Seite der Medaille: Gleichzeitig stieg laut 60 Prozent der befragten Finanzführungskräfte aber auch die Anzahl der Kunden, die in Zahlungsverzug geraten und in den Inkassoprozess überführt wurden. Ein entsprechender Anstieg der Inkassokosten ist bei 62 Prozent der Befragten zu verzeichnen – das heißt mehr als jeder Zweite diagnostiziert einen Anstieg der Forderungsausfälle.
Für viele Geschäftsführer spiegelt diese Entwicklung Schwächen bei der aktuellen Bewertung des Kreditrisikos wider und sie erwarten, dass die Auswirkungen der Inflation den Druck auf Konsumenten erhöhen und zu einem weiteren Anstieg der Zahlungsausfälle in den nächsten drei Jahren führen werden. Fast die Hälfte (47 Prozent) der in Deutschland befragten Finanzentscheider sehen das Kreditrisiko daher auch unter den aktuellen Top-3-Risikofaktoren für ihr Business in den nächsten zwölf Monaten (neben Datenschutz und Cybersicherheit).
Dabei eröffnet ein höherer Kreditbedarf allerdings neue Geschäftsmöglichkeiten – wenn sich Unternehmen bewusst sind, dass das Management des damit verbundenen Risikos alles andere als trivial ist. Wie gut Finanzentscheider dieses Management aufstellen, wird entscheidend dafür sein, wie gut Kreditgeber ihre Kunden in dieser schwierigen Zeit wirklich unterstützen können. Der beste Weg, dieses Risiko zu verstehen und zu mindern, ist dabei die Analyse einer Vielzahl von Datenquellen, was mithilfe von KI/ML heute effizient machbar ist.
Open Banking: Verbrauchertransaktionsdaten verbessern die Genauigkeit der Kreditrisikobewertung
Um eine verantwortungsvolle und nachhaltige Kreditvergabe zu gewährleisten, müssen Finanzentscheider versuchen, die individuelle finanzielle Situation jedes Kunden zu verstehen. Obwohl heute schon eine Reihe alternativer Datensätze zur Verfügung steht, lassen sich solche Datenkategorien erst seit Kurzem durch die jüngsten Fortschritte bei den KI-Analysefähigkeiten nutzen. Das bedeutet in der Praxis, dass sie zur Ergänzung traditioneller Auskunftei-Daten herangezogen werden können.
Viele Unternehmensleiter investieren daher entsprechend: Bei den in Deutschland von Forrester befragten Unternehmen steht der Bereich datengestützte Kundeninformationen (44 Prozent) schon jetzt an der Spitze der höchsten jährlichen Budgeterhöhungen, und über ein Drittel (38 Prozent) der Finanz- und Telco-Unternehmen wollen ihr Budget für KI/ML-gestützte Dienstleistungen in den nächsten Monaten weiter erhöhen.
Auch Kunden können jetzt selbstverantwortlich Transaktionsdaten, die mehr Aufschluss über ihr Ausgabeverhalten geben, über Open Banking freiwillig übertragen. Durch die Analyse dieser Transaktionsdaten mithilfe von ML verbessern Unternehmen die Genauigkeit ihrer Kreditrisikobewertungen deutlich, und gibt Verbrauchern, die ihr gutes Finanzmanagement unter Beweis stellen möchten, zudem viel mehr Möglichkeiten und Kontrolle über die eigene Kreditbewertung. Im Vergleich zur herkömmlichen Kreditprüfung lässt sich dieser Prozess durch KI darüber hinaus zudem erheblich beschleunigen. Durch eine vollständige Automatisierung können Kreditgeber ihren Kunden heute eine nahezu sofortige Entscheidung bieten.
Trends in der Portfolioüberwachung
Neben der Kreditentscheidung kann KI auch Frühwarnsysteme (EWS) verbessern. Die Verbesserung der Erkennungsgenauigkeit von Schwachstellen durch KI-gestützte Frühwarnsysteme wurde in unserer Studie mit Forrester auch international als wichtige Herausforderung für die nächsten drei Jahre wahrgenommen. Durch den ergänzenden Einsatz von KI zur Analyse alternativer Daten – wie bspw. Webdaten, Wirtschaftsprognosedaten oder Analysen von Callcenter-Gesprächen – können Unternehmen Kunden proaktiv identifizieren und bereits ansprechen, bevor sie in den Inkassoprozess geraten.
Im Rahmen dieser Entwicklung weisen die in der Untersuchung analysierten Open-Banking-Anwendungsfälle darauf hin, dass über ein Drittel (38 Prozent) der in Deutschland befragten Kreditgeber bereits automatisierte Systeme zur Schwachstellenidentifikation bei Kunden eingeführt haben, ein weiteres gutes Drittel (38 Prozent) baut die Automatisierung in diesem Bereich sogar schon intensiv weiter aus, während 19 Prozent die Einführung solcher Upgrades in den nächsten Monaten konkret planen.
Dieser proaktive Ansatz kann das Risiko von Kreditverlusten stark verringern, weil gefährdeten Kunden dadurch maßgeschneiderte Sanierungs- und Zahlungserleichterungslösungen angeboten werden können, bevor sie in Zahlungsverzug geraten. Viele Unternehmen haben dies auch schon erkannt: So nutzen 33 Prozent bereits KI/ML für ihre automatische Portfolioüberwachung, um säumige Kunden rechtzeitig zu identifizieren. 40 Prozent planen, in den nächsten zwölf Monaten in diesen Bereich zu investieren. Interessant ist dabei vor allem auch, dass 48 Prozent derjenigen, die KI hier schon konkret einsetzen, feststellen, dass die Produktivitätsgewinne durch KI die anfänglichen Implementierungskosten bereits ausgeglichen haben.
Open Banking und andere alternative Datenquellen in der Kreditanalyse
Unternehmen, die in naher Zukunft in KI investieren wollen, müssen sicherstellen, dass sie Zugang zu ausreichenden Daten haben, um diese fortschrittlichen Analysemaschinen zu betreiben. Dies ist eine der größten Herausforderungen, die in unserer Untersuchung ermittelt wurden. 49 Prozent gaben an, dass der Mangel an Daten zur Bewertung der Kreditwürdigkeit von Kunden den Erfolg ihrer Analyseprogramme einschränkt.
Infolgedessen räumen auch fast drei viertel der befragten Entscheider (72 Prozent) Investitionen in neue Datenquellen höchste Priorität ein, um ein besseres Verständnis von Risiko und Erschwinglichkeit im Rahmen ihres Kunden-Onboardings zu erlangen. Einige wichtige alternative Datenquellen wurden hier bereits erwähnt, beispielsweise Transaktionsdaten aus dem Open Banking. Durch den Erwerb und die Kombination einer Reihe alternativer Datensätze können Unternehmen nun weitere Fortschritte machen.
Wichtige Lückenfüller: Der Einsatz synthetischer Daten
Eine aufregende und relativ neue Option zur Verbesserung der Modellgenauigkeit ist die Verwendung synthetischer Daten, die mit generativer KI erstellt werden. Diese lassen sich gezielt nutzen, um Lücken in Datensätzen zu füllen und hypothetische Szenarien für die Risikomodellierung zu simulieren.
Synthetische Daten sind künstlich erzeugte Daten, die reale Datensätze nachbilden. Sie werden häufig in Situationen verwendet, in denen der Zugang zu realen Daten schwierig oder unmöglich ist, zum Beispiel aufgrund von Datenschutzbedenken, oder wenn einfach nicht genügend reale Daten zur Verfügung stehen.
Synthetische Daten können mit verschiedenen Methoden erzeugt werden, darunter statistische Methoden, Simulationen und maschinelles Lernen. Ein Beispiel für die Verwendung synthetischer Daten ist die Generierung von Kreditkartentransaktionen für Betrugserkennungssysteme.
Ein weiterer Vorteil synthetischer Daten ist, dass sie dazu beitragen, Verzerrungen in den Daten zu reduzieren, weil sie sich gezielt erzeugen lassen, um eine repräsentative Stichprobe der Grundgesamtheit oder des gewünschten Testfalls darzustellen. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass synthetische Daten ihre eigenen Herausforderungen mit sich bringen. Dazu gehören die Sicherstellung ihrer Qualität und Repräsentativität sowie die Validierung ihrer Genauigkeit im Vergleich zu realen Daten. In Projekten stellen wir fest, dass der Mehraufwand durch stabilere und ausgewogenere Modelle belohnt wird.
Open Banking trägt zur Verbesserung bei
In der aktuellen Wirtschaftslage mit anhaltender Inflation und steigendem finanziellen Druck auf die Verbraucher wird der KI-Einsatz bei der Kreditvergabe heute immer mehr zum Standard – und hat entscheidende Bedeutung: Er ermöglicht die umfassende Analyse großer Datensätze und verbessert dadurch das Verständnis sowie das Management von Kreditrisiken.
Open Banking und andere alternative Datenquellen tragen entscheidend zu dieser Verbesserung bei und synthetische Daten bieten ganz neue Möglichkeiten, die Bewertungsmodelle zu verfeinern. Der Zugang zu ausreichenden Daten bleibt dabei eine der wichtigsten Herausforderung für Unternehmen, die in KI investieren wollen.
Autor Martin Baumann, Director Customer Analytics beim Data-Insights-Spezialisten Experian