Die Achterbahnfahrt zum Volksreferendum in Großbritannien über die Mitgliedschaft in der EU hat in den letzten Wochen angesichts der zweimaligen gewaltigen offensichtlichen Umschwünge neue, heftige Wendungen genommen. Gastkommentar von John J. Hardy, Saxo Bank.
Nach der tragischen Ermordung der Labour-Unterhausabgeordneten Jo Cox, die sich für den Verbleib ausgesprochen hatte, scheint der Trend eher zum Verbleib zu gehen. In den letzten zwei Wochen hat das britische Pfund Sterling rund zehn Prozent gegenüber dem japanischen Yen als sicherem Hafen eingebüßt, konnte jedoch bis zum frühen Montagmorgen wieder um etwa fünf Prozent im Vergleich zum Tiefstand vom letzten Donnerstag zulegen.
12 Prozent der Wähler sind noch unentschieden
Aber trotz der Abstimmungstendenzen sagte die „Umfrage aller Umfrage“ der Financial Times am Montag einfach alles: Es steht 44 Prozent zu 44 Prozent, die restlichen Befragten haben sich noch nicht entschieden. Dieser scheinbare Gleichstand ist ein scharfer Gegensatz zu den letzten Tagen, an denen die Gruppe der EU-Gegner ein paar Prozentpunkte vorn lag, aber bemerkenswerterweise führte dieser abrupte Rückgang der Pro-Brexit-Zahlen nicht zu einem kräftigen Anstieg im Lager der EU-Befürworter, sondern der Anteil der noch unentschlossenen Bürger ist in die Höhe geschnellt. In den Wahlkabinen wird diese Gruppe jedoch leider keine Option „Unentschlossen“ vorfinden.
Marktbeobachter und Währungshändler interessieren sich naturgemäß in erster Linie für das Ergebnis dieser Abstimmung in der einen oder der anderen Richtung. Verbleib oder Ausstieg? Und viele haben schon darauf hingewiesen, dass die Differenz zwischen den Stimmen für und gegen den EU-Verbleib sich potenziell entscheidend auf die längerfristige Entwicklung für Großbritannien und die Beziehungen zur EU auswirken. Dies gilt umso mehr bei einem hauchdünnen Brexit-Sieg (zumal vereinzelt bereits der Verdacht aufkeimt, dass auf kurze Sicht ein neues Referendum winkt, sobald Großbritannien angesichts schwacher Anlagemärkte und eines britischen Wirtschaftsrückgangs stark genug ausgelaugt ist) zusammen mit ersten Warnungen aus der EU, welche Folgen ein Ausstieg nach sich ziehen könnte. Natürlich ist umgekehrt das Risiko ebenso hoch, dass der Schuss schlichtweg nach hinten losgeht, wenn die EU-Führung zu sehr drängelt. Unterm Strich müssen die Währungshändler also mit drei Ergebnissen rechnen: Verbleib in der EU, knapper Brexit und klarer Brexit. Betrachten wir die möglichen Reaktionen am Währungsmarkt in diesen drei Szenarien.
Die Reaktion bei einer Entscheidung für den Verbleib in der EU (auch wenn diese Entscheidung nur knapp ausfiele) wäre mit großer Wahrscheinlichkeit ziemlich geradlinig. Trotz großer struktureller Defizite in Großbritannien und eines klaffenden Leistungsbilanzdefizits, das den Pfund Sterling anhaltend unter Druck setzt, dürfte der Wegfall aller Unsicherheiten zum Referendum auch zu einem enormen Anstieg bei den Brexit-Hedges führen und einen kräftigen Nachholbedarf auslösen, der im kommenden Quartal (eventuell auch kürzer oder länger) eine starke Erholung der britischen Wirtschaftstätigkeit anstoßen wird. Das Pfund wird sich kurzfristig wohl am stärksten im Vergleich zum Schweizer Franken erholen – und zu einem US-Dollar, der aufgrund der jüngsten gemäßigten Fed-Linie ins Trudeln geraten ist. Demnächst werde ich erörtern, warum ein Ausverkauf des Yen über die erste reflexartige Reaktion hinaus eher unwahrscheinlich ist.
Heftige Ausschläge am Freitag erwartet
Die Reaktionen auf einen knappen Brexit und einen klaren Brexit werden deutlich heftiger ausfallen, und sie werden noch heftiger, weil die Märkte auf einen neuen Trendumschwung weg von einem Brexit einschwenken. Sowohl Großbritannien als auch Europa würden eine schwächere Währung begrüßen, die die niedrige Inflationsrate beeinflussen würde; jede Stabilisierung der Situation wäre daher wohl nur ein Versuch, die Ansteckungsgefahr für die Anlagemärkte einzudämmen. Anders gesagt: Wenn die Bank von England eine Abwertung des Pfund Sterling um 20 Prozent erhalten könnte, ohne dass die Risikobereitschaft ausgebremst würde, dann würde sie mit Freuden einschlagen.
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In den ersten Handelsstunden und -tagen nach einem Brexit ist mit schier weißglühender Volatilität zu rechnen, wobei ein klarer Brexit die größte Energie und einen erheblich kräftigeren Einbruch des Pfund Sterling auslösen würde, womöglich um zehn bis zwölf Prozent, auch wenn die anfängliche Reaktion zum größten Teil schnell wieder ausgeglichen würde. Selbst bei einem klaren Brexit wird Großbritannien rasch wieder zur Tagesordnung übergehen, und durch den lang ersehnten Wegfall der Unsicherheiten ist mit einem kräftigen Anstieg der Wirtschaftstätigkeit zu rechnen. Bei einem hauchdünnen Vorsprung für den EU-Ausstieg, dürfte die Marktreaktion weniger heftig ausfallen. Der Markt dürfte schnell in einen nervösen, unsicheren Zustand verfallen, da hinter dem Horizont womöglich ein zweites Referendum lauert. John J. Hardy ist Head of FX Strategy bei der Saxo Bank, Dänemark.
Foto: Saxo Bank