Prof. Dr. Jan Viebig, Chief Investment Officer der ODDO BHF SE: „Die überraschend angesetzten Parlamentswahlen in Frankreich ziehen die Kapitalmärkte in Mitleidenschaft. …
Aktuellen Umfragen zufolge ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das rechte Wahlbündnis unter Führung des Rassemblement National (RN, Nationale Sammlung) von Marine Le Pen als stärkster Block aus der Wahl hervorgehen und den künftigen Premierminister stellen wird. Die damit verbundenen Unsicherheiten haben zu deutlichen Kursverlusten des französischen Aktienmarktes und einer kräftigen Ausweitung des Renditeunterschieds zwischen französischen und deutschen Staatsanleihen geführt…
Die französische Wirtschaft steht heute in Europa relativ gut da. Sie kämpft mit ähnlichen Problemen wie alle europäischen Länder: Jahrelang mussten die langfristig wirkenden Folgen der Finanzkrise von 2008 bewältigt werden und dann die Corona-Pandemie. Der Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 löste inFrankreich einen ähnlichen wirtschaftlichen Schock aus wie in Deutschland. Doch die französische Wirtschaft hat sich in den letzten Jahren besser geschlagen als die deutsche. Für das laufende Jahr 2024 beispielsweise erwartet der Internationale Währungsfonds (IWF) für Frankreich ein Wirtschaftswachstum von 0,7 Prozent, für Deutschland nur eine Wachstumsrate von 0,2 Prozent.
Der große Schwachpunkt der französischen Wirtschaft sind vor allem die Staatsfinanzen. Seit der Corona-Pandemie ist das Budgetdefizit auf 5,5 Prozent gestiegen und liegt damit deutlich über der Maastricht-Marke von 3 Prozent. Die Schuldenquote erreichte im Jahr 2023 110,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und dürfte in den kommenden Jahren auch nach den aktuellen Projektionen der Regierung in Paris weiter steigen. Dabei lag die Schuldenquote bis zur Finanzkrise von 2008 im Bereich der 60 Prozent, die im Maastricht-Vertrag gefordert sind.
Die Notwendigkeit, die Verschuldung zu stabilisieren, setzt jeder Regierung – gleich welcher politischen Couleur – einen engen Handlungsrahmen. Gleichzeitig fordern die Wähler angesichts der finanziellen Nöte breiter Bevölkerungsschichten ein größeres staatliches Engagement. Der Rassemblement National greift diese Stimmung auf und will Wohltaten wie eine Senkung des Renteneintrittsalters von 64 Jahren auf 60 Jahre verteilen und viele Verbrauchssteuern senken. Alle Mehrausgaben zusammen könnten sich auf 100 Milliarden Euro oder rund 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beziffern. Es bleibt abzuwarten, ob sich eine eventuelle Regierung des Rassemblement National auf ein Kräftemessen mit den Anleihemärkten einlässt.
Unabhängig vom Wahlausgang wird es schwer, den Staatshaushalt wieder an die Maastricht-Obergrenzen heranzuführen. Auf die schwierige Lage der öffentlichen Finanzen reagieren ausländische Investoren besonders sensibel. Nach Angaben des Finanzministeriums ist der Anteil der von Ausländern gehaltenen französischen Staatsanleihen in den Jahren 2011 bis 2022 bis unter 50 Prozent gesunken und erst in den Jahren 2022 und 2023 wieder auf rund 55 Prozent gestiegen. Frankreich benötigt eine verlässliche Finanzpolitik, damit ausländische Investoren bereit sind, den französischen Staatshaushalt zu finanzieren.
Seit längerem steht Frankreich unter Beobachtung der Ratingagenturen. Die Ansetzung von Neuwahlen lenkt die Aufmerksamkeit der Kreditanalysten noch mehr auf die Staatsfinanzen. „Die vorgezogenen Neuwahlen erhöhen die Risiken für die Haushaltskonsolidierung“, hieß es am Montag, 10. Juni 2024 von Seiten der Ratingagentur Moody’s. Moody’s bewertet Frankreichs Bonität derzeit mit der Note Aa2, Fitch und Standard & Poor’s mit dem leicht schwächeren Rating AA-. Standard & Poor’s hatte Frankreichs Bonitätsnote erst im vergangenen Monat gesenkt.
Angesichts der politischen Unsicherheit ist die Rendite zehnjähriger französischer Staatsanleihen (OAT) in der vergangenen Woche deutlich gestiegen und liegt nun bei 3,2 Prozent. In Deutschland rentieren zehnjährige Bundesanleihen aktuell mit rund 2,4 Prozent. Die Zinsdifferenz hat sich um mehr als 30 auf fast 80 Basispunkte ausgeweitet. Diese Risikoprämie ist die höchste seit 2012 und liegt auf dem Stand von 2017, als neben Emmanuel Macron auch Marine Le Pen gute Chancen auf die Präsidentschaft eingeräumt wurden….
Seit der Europawahl und der Bekanntgabe von Neuwahlen ist der richtungsweisende Aktienindex CAC 40 um gut 5 Prozent (Stand: 19.06.) zurückgefallen. Das ist keine Panik, aber eine deutliche Neubewertung der Risiken….
Die großen politischen Herausforderungen – Krieg in der Ukraine, Krieg im Gazastreifen, zunehmende Spannungen in den Beziehungen zu China, ungewisser Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen, um nur einige zu nennen – werden jene Länder am besten bewältigen können, die politische Verlässlichkeit und Verantwortungsbewusstsein beweisen und nicht in Populismus verfallen. Die Geschehnisse in Frankreichbetreffen alle europäischen Länder, vor allem jene, mit denen Frankreich durch eine Währungsunion verbunden ist“.
Jan Viebig (Foto: Oddo BHF SE)