Am 20. November 2024 jährte sich zum zehnten Mal der Tag, an dem bei DIN die Sitzung zur Konstituierung des Arbeitsausschusses für die erste deutsche Finanznorm, die DIN 77230 „Finanzanalyse für Privathaushalte“ stattfand. An der Sitzung nahmen 63 Personen teil; üblicherweise sind Arbeitsausschüsse auf 21 Teilnehmer gedeckelt. Es herrschte Hauen und Stechen und es war keineswegs in Stein gemeißelt, dass die Initiative starten, geschweige denn zu einem Ergebnis führen würde.
Schließlich machten sich 37 Vertreter aus Wissenschaft und Verbraucherschutz, aus namhaften Unternehmen wie den Branchengrößen Allianz und Deutsche Bank, aus Vertrieben, Maklerhäusern, Qualifizierern und IT-Häusern sowie aus Initiativen und Verbänden auf den gemeinsamen Weg.
Nach vier Jahren Arbeit wurde Ende November 2018 die 77230 verabschiedet – und das wie bei DIN gängige Praxis im Konsens, also ohne Gegenstimme: ein erster wichtiger Meilenstein für die gemeinsame, konsensuale Standardsetzung für die Branche. Inzwischen sind unter weiter zunehmender Beteiligung der Branche die DIN 77223 „Risikoprofilierung für Privatanleger“, die 77235 „Risiko- und Finanzanalyse für Selbstständige, Freiberufler und KMUs“ und die „Nachhaltigkeitspräferenzabfrage“ hinzugekommen, die zusammen mit dem in den nächsten Wochen endgültig zu verabschiedenden „Nachhaltigkeitsscoring für Anlageprodukte“ die DIN 77236 bilden wird. Dieses Scoring fußt auf Ansätzen des Sustainable-Finance-Beirates der Bundesregierung und hat bereits bei den europäischen Aufsichtsbehörden positives Echo erzeugt.
Seit einem Jahr gibt es bei DIN eine eigene „Fachabteilung“ für Finanznormen, den NAFin Normenausschuss Finanzen, die erste Neugründung einer Abteilung seit über zehn Jahren, und seit April unter deutscher Leitung das TC Finance bei CEN. Chairman ist Martin Klein vom Votum Verband. Die erste Working-Group-Sitzung zur Hebung der DIN 77230 zu einer europäischen Norm hat im September stattgefunden. Es hat sich einiges getan seit 2014.
Was nach wie vor fehlt, ist die breite Umsetzung der Normen in der Branche – und das obwohl der wirtschaftliche Nutzen durch Stärkung des Vertrauens und den vollständigen Überblick, den eine Analyse nach Norm verschafft, durch Cross-Selling, leichtere Empfehlungen, Mehrumsatz, höhere Vertragsdichte, stabilere Bestände, Steigerung des Bestandswerts und leichteres Recruiting von allen, die die Norm konsequent umsetzen, eindeutig bestätigt wird.
Aber Prozessnormen führen anders als Produktnormen nicht zu aufwandsarm, aber werbeträchtig vorzeigbaren Siegeln, sondern laden Anwender zur Änderung von Verhaltensmustern ein. Dass in der Implementierung von Prozessnormen deshalb eine besondere Herausforderung an das Management und die Berater und Vermittler in Vertrieben liegt, ist evident.
Aber nur durch sie ist die zweifelsfreie Einlassung von Beratern auf den tatsächlichen Bedarf und die Bedürfnisse der Kunden zu gewährleisten. Die Interessengleichheit von Beratern und Kunden ist die wichtigste Voraussetzung für das, was gute und erfolgreiche Beratungsarbeit in der Finanzbranche ermöglicht und ausmacht: Vertrauen. Finanzberater handeln mit Versprechen auf die Zukunft: zukünftige Renditen, Schutz bei zukünftigen Schadensereignissen, die Erfüllung von Wünschen in der Zukunft. An dem dafür notwendigen Vertrauen mangelt es unverändert seit Jahrzehnten.
Daran haben auch von der eigentlichen Beratungsarbeit eher ablenkende als ihr dienliche regulatorische Verpflichtungen in den Bereichen Administration und Dokumentation und selbst Qualifizierungsoffensiven wenig geändert. Bestens ausgebildete Gauner sind für Kunden noch gefährlicher als unqualifizierte, bei denen sich die Gaunerei leichter entlarvt. Qualifizierung ist eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für verlässliche Qualität. Und die Diskussionen über Vergütungsmodelle gehen an dem Ziel, die Branche vertrauenswürdiger zu machen, vollends vorbei. Doch das ist einen andere Diskussion.
Eine wirkliche Gewähr für gutes, fehlerfreies Arbeiten bieten allein gute Prozesse. Das sieht auch Prof. Dr. Matthias Beenken so, der von der nachvollziehbaren Annahme ausgeht, dass gute Ergebnisqualität eine ebenso gute Prozess- wie Potenzialqualität benötigt. Er konstatiert, dass sich bei der Potenzialqualität, also zum Beispiel in der Qualifizierung von Vermittlern, in der jüngeren Vergangenheit einiges getan habe, während bei der Prozessqualität noch sehr viel Luft nach oben bestehe.
Ein starkes Plädoyer für gute Prozesse liefert das Geleitwort von Allianz-Vorstand Dr. Rolf Wiswesser zu dem lesenswerten Buch „Kann Ihr Vertrieb einen Airbus landen?“. Der Inhalt des gemeinsam von Vertriebs- und Luftfahrtexperten verfassten Werkes wird auf dem Cover unter anderem mit den Stichworten umrissen:
– Von individuellen Freestyle-Methoden zu systematischen Vertriebserfolgen
– Excellence im Vertrieb: Teamarbeit, Fehlerkultur und Standardisierung
Es zieht Analogien zwischen Luftfahrt und Finanzvertrieb, die insofern besonderen Reiz haben, als Piloten nicht nur in Vertrauens-, sondern auch in Attraktivitätsstatistiken regelmäßig am genau anderen Ende auftauchen als Versicherungsvermittler: ziemlich weit oben. Dabei besteht die Pilotentätigkeit kein bisschen aus Freestyle und Ausleben individueller Genialität, die Unternehmenslenker und Berater in der Finanzbranche gerne für sich reklamieren, sondern aus Standards: Prozesse, Prozesse, Prozesse – Checklisten, Checklisten, Checklisten. Rolf Wiswesser liefert die Begründung. Denn trotz bester Ausbildung bleibt richtig, dass – ebenso wie in unserer Branche – „75 Prozent der Fehler in der Luftfahrt (…) ‚man-made‘ (sind). Menschen über Prozesse zu führen und – noch wichtiger – Prozesse auf den Menschen auszurichten, ist daher der zentrale Erfolgsfaktor.“
Ein Marathon und kein Sprint
Und er schlussfolgert für die Finanzbranche: „Eine Vertriebsgesellschaft konnte sich bisher viele Fehler leisten: Eine Fluggesellschaft wäre bei gleicher Quote längst vom Markt verschwunden. Die heutigen Rahmenbedingungen mit Blick auf Regulierung, Kundenerwartung und Wirtschaftlichkeit erfordern in der Finanzbranche einen Quantensprung hinsichtlich Qualität und Effizienz. (…) Vertriebe in die Zukunft zu führen, heißt in erster Linie, Menschen für neue, effektivere Verhaltensweisen zu gewinnen.“
„Dies ist dann besonders herausfordernd, wenn die Verkäufer und Vertriebspartner […] schon seit vielen Jahren mit für sie bewährten Verhaltensweisen erfolgreich im Markt agieren.“ Denn: „Neue Verhaltensweisen und Prozesse erzeugen kurzfristig Aufwand, zuweilen auch Frust und nur selten unmittelbaren wirtschaftlichen Erfolg. Erst wenn neue Prozesse erlernt und in die tägliche Routine übernommen sind, stellt sich auch der Erfolg ein. Diese Geduld war auch in der Luftfahrt ein wichtiger Faktor.“
Auch dort war nämlich die Einführung von Prozessen und Checklisten gegen Widerstände durchzusetzen: Die ersten Piloten bei der Wiedergründung der Lufthansa Anfang der fünfziger Jahre waren ehemalige Kampfpiloten – wie viele unserer Makler und Vermittler erfahrene „alte Recken“, die sich angesichts der Herausforderungen, die sie in der Pilotenkanzel überstanden hatten, von niemandem erklären lassen wollten, wie sie ihren Job zu machen hätten. Als ihnen Co-Piloten an die Seite gesetzt wurden, sollen sie diese mit den Worten begrüßt haben: „Wo Du jetzt sitzt, saß bis gestern meine Mütze. Und die hat die Klappe gehalten…“
Angesichts dieser schwierigen Startvoraussetzungen und des dennoch guten Erfolgs bei der Einführung von effizienten und Sicherheit stiftenden Prozessen in der Luftfahrt klingt Wiswessers Quintessenz ermutigend: „Wenn es der Luftfahrt gelungen ist, aus Einzelkämpfern in der Pilotenkanzel Teamarbeiter mit einer Fehlerquote im Hunderttausendstelbereich zu machen, dann sollte das jedem Vertriebsmanager eine Betrachtung wert sein“.
Es lohnt sich, nicht nachzulassen. Implementierung von guten Prozessen ist ein Marathon und kein Sprint. In zehn Jahren werden wir weiter sein.
Klaus Möller ist Vorstand der Defino Institut für Finanznorm AG.