Spannend bleibt, in welchen Bereichen der Versicherungswirtschaft die Digitalisierung zu neuen Impulsen führt. „Die Pandemie hat klar gezeigt, dass bei fast allen Marktteilnehmern dringender Handlungsbedarf besteht“, sagt Dr. Sebastian Grabmaier, Vorstandsvorsitzender von Jung, DMS & Cie (JDC).
Eine Studie der Unternehmensberatung EY zeigt, dass viele Kompositversicherer vor dem Hintergrund der dynamischen Entwicklungsprozesse befürchten, digital den Anschluss zu verlieren. „Der Versicherungsmarkt ist geprägt von einem immer härteren Konkurrenzkampf; und die technische Infrastruktur entscheidet maßgeblich darüber, wer künftig zu den Gewinnern gehört“, sagt Franz Bergmüller, der als Chief Commercial Officer (CCO) bei Adcubum den deutschen Markt verantwortet.
Hemmschuh technische Altlasten
Eine veraltete oder nur schwer erweiterbare Kernsystemlandschaft bremst nach Ansicht des Branchenexperten die Unternehmen in ihren Möglichkeiten beträchtlich: „Technische Altlasten verhindern Innovationen im Produktbereich und hemmen die Mitarbeitenden in ihrem Bestreben, Kundenanliegen schnell und prozesssicher zu erledigen.“ Die Ergebnisse der Studie belegen, dass viele Kompositversicherer künftig auf die Anforderungen des Marktes nicht mehr angemessen reagieren können, sofern sie nicht technisch modernisieren. So glauben 92 Prozent der befragten Experten aus dem Bereich Kfz-Versicherung, für die Zukunft nicht gut aufgestellt zu sein. Unter den SHUR-Versicherern (Sach-, Haftpflicht-, Unfall-, Rechtschutz-Versicherung) teilen 69 Prozent diese Meinung.
Die SHUR-Versicherer kämpfen mit einer ganzen Reihe von Problemen, wobei die fehlende Cloud-Fähigkeit von den Umfrageteilnehmern als größte Herausforderung identifiziert wird. Gleich dahinter folgen eine zu langsame Time-to-Market und generelle Bedenken hinsichtlich des Alters der Technologie. „Auffällig ist, dass im Bereich der Kfz-Versicherungen noch mehr im Argen liegt. Hier ist die Architektur der Systeme insgesamt nicht mehr auf einem aktuellen Stand, die Konzerne kämpfen also an mehreren Fronten gleichzeitig“, so Adcubum-COO Bergmüller. Um die Zukunftsfähigkeit zu sichern, werden die Versicherer ihre IT grundlegend erneuen müssen.
„Die technische Infrastruktur entscheidet maßgeblich darüber, wer künftig zu den Gewinnern gehört.“
Die Kompositversicherer nur noch bedingt wettbewerbsfähig? Im Prinzip funktioniert das digitale Versicherungsgeschäft nicht anders als der Einkauf bei Amazon. Und es geht hierbei auch um Sichtbarkeit und Schnelligkeit. „Es gilt einerseits Kunden, die im Internet nicht nur Informationen suchen, in Form von einfachen Online-Abschlussstrecken Lösungen anzubieten und andererseits auch allen anderen Kunden in Form von einfachen Übersichten und Transaktionsmöglichkeiten über Smartphone, Tablet oder PC einen digitalen Standard zu bieten, den sie von den meisten anderen Branchen bereits gewohnt sind“, erklärt JDC-Chef Grabmaier. Versicherungskunden verstünden nicht, warum eine amerikanische Plattform einen Liter Milch in zwei Stunden vor die Haustüre liefern könne, eine marktführende Versicherung aber für ein E-Mail mit einer Versicherungspolice zwei Wochen brauche.
Wendepunkte auf dem Kapitalmarkt
Doch nicht nur auf digitaler Ebene sorgt Corona für Wendepunkte. Auch auf den Kapitalmärkten hat die Pandemie die Situation noch einmal verschärft. Mit Folgen für die Altersvorsorge. Das Absenken des Garantiezinses von aktuell 0,9 Prozent auf 0,25 Prozentpunkte zum 1. Januar 2022 bedeutet das Ende der klassischen Altersvorsorge mit Garantiezusagen von 100 Prozent. Für die Deutsche Aktuarvereinigung (DAV) macht die Garantiezinssenkung die Darstellung einer Bruttobeitragsgarantie in der betrieblichen Altersvorsorge (bAV) und bei der Riester-Rente unmöglich.
„Ohne eine Abkehr von der 100-prozentigen Beitragsgarantie heute gibt es morgen am Markt vermutlich keine Riester-Rente und Beitragszusage mit Mindestleistung (BZML) mehr, über deren Ausgestaltung gesprochen werden kann“, forderte der ehemalige Vorstandsvorsitzende der DAV, Dr. Guido Bader, bereits im Mai diesen Jahres. Weil die nötigen gesetzgeberischen Änderungen bis heute fehlen, haben Anbieter angekündigt, sich aus diesem Marktsegment und der Beitragszusage mit Mindestleistung in der betrieblichen Altersversorgung ganz oder teilweise zurückzuziehen.
Hat Riester eine Zukunft?
Ähnlich verfahren ist die Situation bei der Riester-Rente. Seitdem das Bundesfinanzministerium Ende April Absenkung des Höchstrechnungszinses verkündete, werden auch hier die Totenglocken immer lauter geläutet. Fakt ist, dass auch bei der Riester-Rente die Beitragserhaltsgarantie zum Hemmschuh geworden ist. „Riester ist eigentlich tot“, sagt Ludwig. Reformen durch den Gesetzgeber täten not. In Sicht sind sie nicht.
„Abwracken oder Aufrüsten“ lautete der Titel einer Studie über die Riester-Rente, die das Institut für Vorsorge und Finanzplanung im Auftrag des DIA im Frühjahr 2019 erstellt hatte. Darin kam das IVFP zum Schluss, dass sich die Riester-Rente sehr wohl lohnt. Und zwar sowohl im Bezug auf die Rentabilität, die Marktdurchdringung und die Kundengruppen als auch hinsichtlich der Verbreitung. Im Sommer 2021 hakte Cash. dann nach. „Diese Einschätzung gilt heute immer noch. Die Riester-Rente lohnt sich für viele Menschen, insbesondere für Geringverdiener und Familien mit mehreren Kindern“, bestätigte Professor Michael Hauer, IVFP-Geschäftsführer und Mitautor der Studie.
„Die Riester-Rente hat ihre Ziele verfehlt“, heißt es stattdessen beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. Ob die Riester-Rente abgewrackt wird, hängt nach der Bundestagswahl vor allem von der FDP ab. „Rot-Grün wird die Geringverdiener bei ihrer Altersvorsorge im Stich lassen“, glaubt jedenfalls Hauer. Das zwei Parteien, die die Riester-Rente gemeinsam eingeführt haben, diesen Förderweg an die Wand fahren, sei verwunderlich, so Hauer. Schließlich sei die Riester-Förderung die einzige Förderung für Geringverdiener und Familien mit mehreren Kindern, die über Zulagen und nicht über Steuerersparnis funktioniere. Die Signalwirkung die Riester-Sparer wäre jedoch fatal.
Aber auch in den anderen Schichten sorgen die Niedrigzinsen und Rechnungszinssenkung für eine Abkehr von der 100 Prozent-Beitragsgarantie. „Garantien kosten Geld im Sinne von Opportunitätskosten, also entgangenem Gewinn. Denn jeder Euro, der für die Garantieerzeugung ausgegeben werden muss, steht nicht mehr für Aktien zur Verfügung“, betont der IVFP-Geschäftsführer. Den Kunden müsse klar gemacht werden, dass bei Einbeziehung von Garantien weniger herauskomme. „Bei einer Laufzeit von 30 Jahren kann man das Doppelte an Ablaufleistungen erzielen. Ich bin überzeugt, dass sich vielen Kunden für eine Fondspolice ohne Garantien entscheiden würden, wenn ihnen dieser Sachverhalt klar ist“, zeigt sich Hauer überzeugt. Ein wichtiger Baustein im Beratungsgespräch sind in dem Zusammenhang die Prognose-Rechnungen.
„Das Niedrigzinsniveau erfordert neue Modelle“, sagt Morgen und Morgen-Experte Ludwig. „Die deterministischen Hochrechnungen stellen in keiner Weise den aktuellen Kapitalmarkt dar“, so Ludwig. Notwendig seien viel mehr moderne stochastische Simulationen, die eine Vergleichbarkeit über alle Schichten hinweg ermöglichen. Die Herausforderung für die Vermittler sei hierbei der immer schnellere und tiefgreifendere Wandel in der Versicherungsbranche.
„Die Krisen haben uns erneut ins Gedächtnis gerufen, wieviel ein funktionierender Versicherungsschutz Wert ist.“
„Produkte werden feingliedriger und dynamischer, was zu einen sehr gut für die Endkunden ist, aber Vermittler vor neue Herausforderungen stellt.“ Vor dem Hintergrund sei es wichtig für den Verbraucher, dass er im regelmäßigen Kontakt mit seinem qualifizierten Versicherungsvermittler stehe, damit die Versicherungspolicen immer auf aktuellem Stand gehalten werden können.
„Es zeigt sich, wie wichtig eine neutrale Analyse von Versicherungsprodukten ist, die auf klare Formulierungen der Vertragsinhalte Wert legt. So können schon vor dem Versicherungsfall mögliche Streitpunkte identifiziert werden. Die Krisen haben uns erneut in Gedächtnis gerufen, wieviel eine funktionierende Versicherungswirtschaft und insbesondere ein funktionierender Versicherungsschutz Wert ist“, sagt Ludwig.